Allradlenkung

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Allradlenkung im Autosport: Fiat Stilo mit Allradantrieb bei einem Eisrennen der Trophée Andros
Allradlenkung mit 3,10 m Wenderadius bei einem Multicar Tremo Carrier
Mercedes-Benz G5 Kübelwagen von 1937 bis 1941 mit Allradlenkung

Allradlenkung ist eine Technik bei Kraftfahrzeugen, die zum Richtungswechsel alle Räder lenkt; im Gegensatz zur gebräuchlichen Lenkung nur einer Achse, bei der in der Regel nur die Räder der Vorderachse gelenkt werden. Bei Gabelstaplern, Mähdreschern, Vorderkippern (Dumpern) und ähnlichem werden die Räder der Hinterachse gelenkt.

Funktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit Allradlenkung werden normalerweise nur Spezialfahrzeuge ausgerüstet, die auf engstem Raum manövrieren müssen. Beispiele sind Vierwegestapler, die sich seitlich bewegen können, statt eine Kurve zu fahren und Kehrmaschinen, die auf kleinstem Raum wenden können.

Die Allradlenkung erhöht bei Spezialfahrzeugen, wie beispielsweise überlangen Schwertransportern, die Fähigkeit, auch unter schwierigen räumlichen Verhältnissen zu rangieren.

Bei Pkw wird eine Allradlenkung verwendet, um je nach Fahrgeschwindigkeit folgende Funktionen darzustellen[1][2]:

  • Wendekreisverringerung beim Manövrieren durch gegensinniges Lenken der Hinterräder mit relativ großen Lenkwinkeln (mehrere Grad)
  • Steigerung der Agilität bei kleinen und mittleren Geschwindigkeiten durch gegensinniges Lenken der Hinterräder mit kleinen Lenkwinkeln
  • Steigerung der Stabilität bei höheren Geschwindigkeiten durch gleichsinniges Lenken der Hinterräder mit kleinen Lenkwinkeln

Der Übergang zwischen dem Bereich der Agilisierung und der Stabilisierung ist abhängig von der Abstimmung des Fahrzeugs; er liegt im Bereich von ca. 50 bis 100 km/h. Beim gegensinnigen Lenken wird eine Erhöhung der Gierwinkelgeschwindigkeit erreicht, wohingegen diese bei gleichsinnigem Lenken verringert wird und der Aufbau der Querbeschleunigung schneller erfolgt. Durch die Verringerung des Schwimmwinkels wird die Fahrstabilität verbessert.

Technik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Antrieb für aktive Hinterradlenkung mit integriertem Steuergerät von Aisin Seiki

Aktive Hinterachslenkungen bei Pkw greifen auf verschiedene technische Umsetzungen zurück. So kann eine Lenkung ähnlich derer an der Vorderachse verwendet werden (Zahnstangenlenkung usw.), die über Spurstangen beide Hinterräder verstellt.[1] In einer anderen Umsetzung werden die passiven Spurlenker der Hinterachse durch aktive Stellantriebe ersetzt, so dass beide Hinterräder jeweils über einen eigenen Antrieb verfügen.[1] Ferner werden auch besondere Lenkgestänge eingesetzt, die wiederum über einen einzelnen Antrieb verstellt werden. Die heute eingesetzten Systeme sind allesamt Steer-by-Wire Systeme, d. h., sie werden elektro-motorisch angesteuert und es existieren keine mechanischen oder hydraulischen Kopplungen zur Vorderachslenkung. Damit werden besondere Anforderungen an die funktionale Sicherheit gestellt, insbesondere gemäß der ISO 26262.

Für die eigentliche Lenkfunktion, also die Berechnung des Hinterachs-Lenkwinkels aus den Fahrzeugparametern, sind verschiedene Vorgänge der Integration denkbar. Alle heute bekannten aktiven Systeme verfügen über ein eigenes elektronisches Steuergerät (auch „ECU“ genannt, entsprechend dem englischen Wort) zur Ansteuerung des Systems (Verstellfunktion, Diagnosen usw.). Die Lenkfunktion kann auf diesem Steuergerät platziert sein. Alternativ wird die Funktion an anderer Stelle integriert, z. B. im Steuergerät der Vorderachslenkung oder der Fahrdynamikregelung.

Die oben genannte Lenkfunktion kann durch verschiedene Algorithmen dargestellt werden. Eingangsgrößen sind in der Regel der Lenkwinkel der Vorderachse sowie die Fahrgeschwindigkeit. Im einfachsten Fall ist es eine Vorsteuerung, die auf Basis der Eingangsgrößen den sogenannten Lenkfaktor bestimmt, also den Quotienten aus Hinterachs- zu Vorderachslenkwinkel.

Verschiedene Automobilzulieferer haben entsprechende Hinterachslenksysteme im Programm:

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1903 stellte die Cotta Automobile Company aus den USA Dampfwagen mit Allradantrieb und Allradlenkung her.[8]

Die Daimler-Motoren-Gesellschaft entwickelte 1907 den Dernburg-Wagen mit vier angetriebenen und gelenkten Rädern. Die Società Automobili Brevetti Angelino entwarf 1927 einen Prototyp mit Allradantrieb und Allradlenkung, der aber nicht in Serienproduktion ging.[9] In den 1930er Jahren hatten die Mercedes-Benz-Geländefahrzeuge 170 VL und G5 eine Allradlenkung, ebenso bis 1940 zwei Typen von Einheits-PKW der Wehrmacht.

Der erste in Großserie gefertigte Straßen-Pkw mit Allradlenkung war der Honda Prelude der dritten Generation, der 1987 erschien. Die Lenkung arbeitete mechanisch mit einem Planetentrieb: bei kleinem Lenkwinkel wurden die Hinterräder gleichsinnig zu den Vorderrädern eingeschlagen, bei großem gegensinnig. Weitere Autos mit Allradlenkung sind der Mitsubishi Sigma und der Mitsubishi 3000 GT sowie der Nissan 300ZX und der Nissan Skyline. Auch der Mazda 626 in seiner dritten Generation, der Baureihe GD, und weitere, zumeist japanische Pkw waren und sind auf Wunsch mit einer Allradlenkung erhältlich. Bei BMW wurde zwischen 1992 und 1996 in der 8er-Baureihe (BMW E31) die sogenannte Aktive Hinterachskinematik (AHK) teilweise serienmäßig (im 850 CSi) oder gegen einen Aufpreis eingebaut.

Seit Ende der 2000er Jahre kommen Allradlenkungen einer neuen Generation zum Einsatz. So führte BMW zuerst in der damaligen 7er-Reihe eine Allradlenkung als Option ein (Integral-Aktivlenkung); diese ist auch in der neuen Generation der 7er-Reihe erhältlich sowie – ebenfalls optional – in Fahrzeugen der 5er- und 6er-Reihen.[10][11][12] Bei Renault wird seit 2009 eine Allradlenkung optional angeboten (4control), zunächst im Renault Laguna GT, nachfolgend (ebenfalls optional) in den Modellreihen Talisman, Mégane und Espace.[7][13][14][15] Auch der 2022 eingeführte Renault Austral ist mit einer Allradlenkung erhältlich[16]. Im Jahr 2013 ging der Porsche 911 Turbo erstmals mit einer serienmäßigen Allradlenkung in Serie; 2016 folgte der Porsche Panamera mt dieser Option.[17][18][19] Audi stattet bereits seit 2014 den Q7 mit einem System aus.[20] Auch japanische Hersteller bieten im Luxussegment Fahrzeuge mit Allradlenkung an, so Infiniti im Modell QX70 (RAS – Rear Active Steering) sowie Lexus im Modell GS.[21][22] Mit dem Ferrari F12tdf, dem Ferrari GTC4Lusso sowie dem Lamborghini Aventador (S Coupé) führten auch die italienischen Hersteller in den Modelljahren 2016/2017 diese Technologie ein.[23][24][25]

Tesla Cybertruck (zurzeit nur auf dem US-Markt erhältlich) ist der erste Tesla mit Allradlenkung und Steer-by-Wire, ohne mechanische Verbindungen, an beiden Achsen.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d Pkw | AKC® – Active Kinematics Control – ZF Friedrichshafen AG. Archiviert vom Original am 4. April 2017; abgerufen am 13. März 2024.
  2. SAE Magazines: SAE Eye on Engineering: ZF Active Kinematic Steering. 2. März 2016, abgerufen am 5. April 2017.
  3. "Continental Automotive Systems. Daten & Fakten 2009", Seite 37, Abschnitt "Die Hinterachslenkung – Active Rear Axle Kinematics (ARK)." Continental AG, abgerufen am 12. März 2017.
  4. Die elektro-hydraulische Hinterachs-Lenkung eRAS (electric Rear Axle Steering System). Robert Bosch GmbH, abgerufen am 5. April 2017.
  5. "Steering Impulses from the Rear Active Kinematics Control (AKC) for Passenger Cars", ZF (Memento vom 13. März 2017 im Internet Archive). ZF Friedrichshafen AG, abgerufen am 12. März 2017.
  6. Aisin Seiki: Active Rear Steering. YouTube-Video. 2. Oktober 2016, abgerufen am 4. April 2017.
  7. a b Electronic four-wheel steering from Renault. Abgerufen am 4. April 2017 (englisch).
  8. Beverly Rae Kimes, Henry Austin Clark Jr.: Standard catalog of American Cars. 1805–1942. 3. Auflage. Krause Publications, Iola 1996, ISBN 0-87341-428-4, S. 382 (englisch).
  9. Nick Georgano: The Beaulieu Encyclopedia of the Automobile, Volume 3 P–Z. Fitzroy Dearborn Publishers, Chicago 2001, ISBN 1-57958-293-1 (englisch)
  10. BMW 7er Limousine : Alle Fakten. Archiviert vom Original am 5. April 2017; abgerufen am 13. März 2024.
  11. BMW 5er Limousine : Fahrdynamik & Effizienz. Abgerufen am 4. April 2017.
  12. BMW 6er Coupé : Fahrdynamik & Effizienz. Archiviert vom Original am 4. April 2017; abgerufen am 13. März 2024.
  13. Renault TALISMAN – die Coupé-Limousine. Abgerufen am 4. April 2017.
  14. Der neue Renault MEGANE GT – erstklassige Ausstattung. Abgerufen am 4. April 2017.
  15. Renault ESPACE – Ausstattung auf höchstem Niveau. Abgerufen am 4. April 2017.
  16. Renault Austral – Renault. Abgerufen am 20. Februar 2023.
  17. Porsche 911 Turbo S – Hinterachslenkung – Porsche Deutschland. Abgerufen am 4. April 2017.
  18. Stars by ZF – ZF Friedrichshafen AG. Archiviert vom Original am 16. März 2017; abgerufen am 13. März 2024.
  19. Porsche Panamera – Hinterachslenkung – Porsche Deutschland. Abgerufen am 4. April 2017.
  20. Pakete > Q7 > Audi Deutschland. Abgerufen am 5. April 2017.
  21. Infiniti QX70 Fahrleistungen – Premium-Crossover. Abgerufen am 4. April 2017.
  22. News&Events, Neuigkeiten. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 22. Februar 2017; abgerufen am 4. April 2017.
  23. F12tdf: Rennleistung für die Straße – Ferrari.com. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 18. April 2017; abgerufen am 4. April 2017 (amerikanisches Englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/auto.ferrari.com
  24. GTC4Lusso – Ferrari.com. Abgerufen am 4. April 2017 (amerikanisches Englisch).
  25. Lamborghini Aventador S Coupé. Abgerufen am 4. April 2017 (englisch).