Helmut Hasse

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Helmut Hasse

Helmut Hasse (* 25. August 1898 in Kassel; † 26. Dezember 1979 in Ahrensburg) war ein deutscher Mathematiker und gilt als einer der führenden Algebraiker und Zahlentheoretiker seiner Zeit.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hasse war der Sohn des Richters Paul Reinhard Hasse und von Margaret Quentin, die in Milwaukee geboren war, aber in Kassel aufwuchs.[1] Er ging in Kassel und Berlin-Wilmersdorf (Fichte-Gymnasium) zur Schule, nachdem die Familie 1913 nach Berlin umzog. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich nach dem Notabitur 1915 im Fichte-Gymnasium freiwillig zur Marine und war im Baltikum – wo er auch kryptographische Arbeiten verrichtete und das Zahlentheorie-Lehrbuch von Dirichlet-Dedekind studierte – und in Kiel stationiert, wo er 1917/18 auch Vorlesungen von Otto Toeplitz besuchte. Nach dem Krieg studierte er zunächst in Göttingen, wo er bis zu dessen Weggang nach Hamburg bei Erich Hecke hörte; die Lektüre des Buches „Zahlentheorie“ von Kurt Hensel mit seinen neuen p-adischen Methoden bewog ihn aber, 1920 zu diesem nach Marburg zu wechseln, wo er im Mai 1921 promoviert wurde (mit der Arbeit über quadratische Formen in den rationalen Zahlen, die das Lokal-Global-Prinzip begründete).[2] Während seines Studiums wurde er Mitglied beim Verein Deutscher Studenten Marburg.[3] Im Februar 1922 folgte die Habilitation (Äquivalenz quadratischer Formen über den rationalen Zahlen). Im Herbst 1922 erhielt er eine Stelle als Privatdozent in Kiel, und zur selben Zeit heiratete er Clara Ohle. Ostern 1925 wurde er als Ordinarius nach Halle berufen und wurde, neben Heinrich Wilhelm Ewald Jung, Direktor des dortigen Mathematischen Instituts. 1930 übernahm er die Nachfolge seines Lehrers Kurt Hensel in Marburg.[4]

Helmut Hasse (1930)

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten gehörte er am 11. November 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat.[5] 1934 wurde er in Göttingen Nachfolger von Hermann Weyl, der wegen seiner politischen Ansichten und seiner jüdischen Frau in die Emigration getrieben wurde. Während der Zeit des Nationalsozialismus war er als Vorstandsmitglied der DMV in einen Machtkampf mit Ludwig Bieberbach, einem der Hauptvertreter der Deutschen Mathematik, verwickelt, da er die Unabhängigkeit der DMV erhalten wollte.[6] Hasse ging es vor allem darum, das Ansehen der deutschen Mathematik im Ausland zu erhalten. Auch in seiner Zeit in Göttingen bemühte er sich, dem durch die Vertreibung jüdischer und gegen die Nationalsozialisten eingestellter Professoren entstandenen Bedeutungsverlust durch hohe Anforderungen an die wissenschaftliche Arbeit am Institut entgegenzuwirken.

Politisch stand Hasse wie viele ehemalige Angehörige der Reichskriegsmarine weit rechts. Er beantragte am 29. Oktober 1937 die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 5.639.530).[7] Da er aber eine jüdische Urgroßmutter hatte, führte das zu Widerständen in der Partei, in der einige Stellen hartnäckig ein Ausschlussverfahren anstrebten, das aber nach dem Eintritt Hasses in die Marine vorläufig auf Eis gelegt wurde.[8] Im Krieg forschte er für die deutsche Kriegsmarine über Ballistik und Hochdruckphysik[9] in Berlin und akquirierte dafür auch Räume am Mathematischen Institut in Göttingen, teilweise aber wohl auch um deren anderweitige Beschlagnahme zu verhindern. Seine Haltung im Nationalsozialismus blieb umstritten. Während man ihm einerseits zum Beispiel Eintreten für jüdische Kollegen wie Hensel und Emmy Noether zugutehielt, schrieb er andererseits zum Beispiel einen Aufsatz über die Lage der Mathematik in Deutschland in einer Festschrift zum 50. Geburtstag von Adolf Hitler und er trat einer 1937 gegründeten NS-Akademie der Wissenschaften in Göttingen bei.[10] Einige ausländische und emigrierte Kollegen begegneten ihm deshalb später mit Misstrauen.[11]

Nach dem Kriege kam Hasse nach Göttingen zurück. Er wurde aber im September 1945 von den britischen Behörden seines Lehrstuhls enthoben. In einem Interview mit Constance Reid räumte Hasse ein, dass dies möglicherweise darauf zurückzuführen war, dass er unverblümt rechtes nationales Gedankengut unter anderem auf der ersten Fakultätssitzung und gegenüber amerikanischen Besuchern geäußert hatte.[12] Godfrey Harold Hardy[13] und andere setzten sich vergeblich für den Verbleib Hasses auf seinem Lehrstuhl ein. 1947 erging als Folge des Entnazifizierungsverfahrens ein Lehrverbot, wobei als Begründung die NSDAP-Mitgliedschaft seit 1938 angegeben wurde, und erst nach nunmehr in deutschen Händen liegendem Berufungsverfahren wurde er 1948 als entlastet eingestuft.[14] Hasse ging währenddessen nach Berlin (Ost), wo er zuerst ab 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften und später an der Humboldt-Universität wirkte, an der er 1949 Professor wurde. In dieser Zeit entstanden seine Monographie und sein Lehrbuch der Zahlentheorie. 1950 nahm Hasse einen Ruf an die Universität Hamburg an, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1966 blieb.

Zu seinen Mitarbeitern und Studenten in Göttingen in den 1930er Jahren zählten Ernst Witt, Friedrich Karl Schmidt, Oswald Teichmüller, Martin Eichler und Harold Davenport. Zu seinen Doktoranden zählen Peter Roquette, Heinrich-Wolfgang Leopoldt, Cahit Arf, Wolfgang Franz, Günter Pickert, Curt Meyer, Paul Lorenzen, Otto Schilling, Hans Wittich, Günter Tamme, Hans Reichardt (in Marburg), Hermann Ludwig Schmid und Helmut Brückner (in Hamburg) und er stand auch unter anderem mit Arnold Scholz, Emil Artin und Harold Davenport in regem Briefwechsel. Mit Emmy Noether führte er einen ausgedehnten Briefwechsel auch nach ihrer Emigration.

Hasse war ab 1926 Mitglied der Leopoldina (deren Cothenius-Medaille er erhielt), der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (von 1934 bis 1945),[15] der Academia Scientiarum Fennica (in Helsinki, seit 1942), der Berliner Akademie der Wissenschaften (der DDR, seit 1949), der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (seit 1952) und der Real Academia de Ciencias Exactas, Físicas y Naturales (in Madrid, seit 1956). 1953 erhielt er den Nationalpreis der DDR I. Klasse für Wissenschaft und Technik. Er war Ehrendoktor der Universität Kiel.

Von 1929 bis 1979 war er Herausgeber des Journal für die reine und angewandte Mathematik.

Werk[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hasse leistete fundamentale Beiträge zur algebraischen Zahlentheorie, insbesondere den Beweis höherer Reziprozitätsgesetze (mit vielen detaillierten Untersuchungen in speziellen Zahlkörpern) und der Klassenkörpertheorie. Sein berühmter Bericht für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) fasst die Entwicklung bis 1926/1927 zusammen. Er arbeitete auch über die Theorie der komplexen Multiplikation in Zahlkörpern und nach dem Krieg über die Klassenzahlen abelscher Zahlkörper.

Mit seinem Lehrer Kurt Hensel war er ein Pionier in der Einführung und Weiterentwicklung lokaler (p-adischer) Methoden in der Algebra und Zahlentheorie. Er bewies, dass für quadratische Formen in den rationalen Zahlen aus der „lokalen“ Lösbarkeit (p-adisch und reell) von Gleichungen die „globale“ folgt. Ausführlich: Wenn eine quadratische Form mit rationalen Koeffizienten in jedem p-adischen Körper und im reellen Zahlenkörper die Null nichttrivial darstellt [d. h. es gibt Werte der Variablen (nicht alle Null), die beim Einsetzen den Wert der Form zu Null machen], dann stellt sie die Null auch im rationalen Zahlenkörper nichttrivial dar.

Für Gleichungen höheren Grades gilt dies im Allgemeinen nicht mehr und ist Gegenstand des „Lokal-Global-Prinzips“.

1936 erzielte er einen großen wissenschaftlichen Durchbruch mit seinem Beweis der Riemannschen Vermutung im Fall der Funktionenkörper elliptischer Kurven. 1936 hielt er darüber einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Oslo (Über die Riemannsche Vermutung in Funktionenkörpern).

Er arbeitete auch über die Theorie der Algebren. 1932 untersuchte er die Brauergruppe, die Gruppe der zentral einfachen Algebren über einem Grundkörper k, für den Fall p-adischer Grundkörper, also im „lokalen“ Fall und fand so auch die von ihm gesuchte lokale Theorie des Normenrestsymbols von Zahlkörpern. Auch bei der Brauergruppe gilt ein Lokal-Global-Prinzip, ihre globale Zerfällung ist mit der lokalen äquivalent (Satz von Brauer-Hasse-Noether).

Nach ihm ist das Hasse-Diagramm benannt, eine graphische Darstellung halbgeordneter Mengen, und die Hasse-Arf-Theorie, eine Verzweigungstheorie (zusammen mit dem türkischen Mathematiker Cahit Arf).

Schriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Harold M. Edwards: Hasse, Helmut. In: Frederic Lawrence Holmes (Hrsg.): Dictionary of Scientific Biography. Band 17, Supplement II: Leason Heberling Adams – Fritz H. Laves. Charles Scribner’s Sons, New York 1981, S. 385–387.
  • Günther Frei: Helmut Hasse, Expositiones Mathematicae Band 3, 1985, S. 55–69.
  • Günther Frei, Peter Roquette: Helmut Hasse in Halle, 2002, PDF-Datei (172 kB)
  • Frei (Hrsg.): Briefe von Emil Artin an Helmut Hasse. Collection Mathématique, Universität Laval und Forschungsinstitut Mathematik ETH Zürich, 1981, Neuauflage mit Peter Roquette, Universitätsverlag Göttingen 2008 (Die Artin-Hasse Korrespondenz)
  • Frei: Leben und Werk von Helmut Hasse. Collection Mathématique, Universität Laval und Forschungsinstitut Mathematik ETH Zürich, 1977
  • Frei: How Hasse was led to the theory of quadratic forms, the local-global principle, the theory of the norm residue symbol, the reciprocity laws and to class field theory. In: Miyake (Hrsg.): Class field theory – its centenary and its prospect, Advanced Studies in Pure Mathematics. Tokio, 2001, S. 31.
  • Franz Lemmermeyer, Peter Roquette (Hrsg.): Helmut Hasse und Emmy Noether. Die Korrespondenz 1925–1935. Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2006, ISBN 3-938616-35-0 (E-Text; PDF-Datei; 3,84 MB)
  • Franz Lemmermeyer, Peter Roquette (Hrsg.): Die mathematischen Tagebücher von Helmut Hasse 1923–1935. Universitätsverlag Göttingen 2012, online
  • Franz Lemmermeyer, Peter Roquette (Hrsg.): Der Briefwechsel Hasse – Scholz – Taussky. Universitätsverlag Göttingen 2016 (Briefwechsel mit Olga Taussky-Todd, Arnold Scholz)
  • Heinrich-Wolfgang Leopoldt: Helmut Hasse (August 25, 1898–December 26, 1979), J. Number Theory, Band 14, 1982, S. 118–120.
  • Heinrich-Wolfgang Leopoldt: Zum wissenschaftlichen Werk Helmut Hasses. Mitt. Math. Ges. Hamburg, Band 11, Heft 1, 1982, S. 9–23.
  • Heinrich-Wolfgang Leopoldt: Helmut Hasse, 25. August 1898–26. Dezember 1979. In: Journal für die reine und angewandte Mathematik, Band 314, 1980, S. 1.
  • Heinrich-Wolfgang Leopoldt: Zum wissenschaftlichen Werk von Helmut Hasse. In: Journal für die reine und angewandte Mathematik, Band 262/263, 1973, S. 1–17.
  • Karin Reich: Der Briefwechsel Emil Artin – Helmut Hasse (1937/38 und 1953 bis 1958) Die Freundschaft der beiden Gelehrten im historischen Kontext, EAGLE Band 103, Leipzig, 2018
  • Peter Roquette: The Brauer-Hasse-Noether theorem in historical perspective (= Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band 15). Springer, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-540-23005-X.
  • ders. Zur Geschichte der Zahlentheorie in den Dreissiger Jahren, Mathematisch-Physikalische Semesterberichte 1998, Nr. 1
  • Nobert Schappacher: Das mathematische Institut der Universität Göttingen 1929–1950. In: Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms, Cornelia Wegler (Hrsg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Saur, München 1998, S. 523–551.
  • Sanford L. Segal: Mathematicians under the Nazis. Princeton University Press, Princeton 2003, ISBN 978-0-691-16463-2 (Biographie S. 130ff)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Harold Edwards, Artikel Helmut Hasse in Dictionary of Scientific Biography
  2. Helmut Hasse. In: Mathematics Genealogy Project. North Dakota State University, abgerufen am 18. September 2023 (englisch).
  3. Louis Lange (Hrsg.): Kyffhäuser-Verband der Vereine Deutscher Studenten. Anschriftenbuch 1931. Berlin 1931, S. 82.
  4. Hasse soll nach Hans Reichardts Aufsatz zu Hensel in Pieper Zahlen aus Primzahlen, Berlin 1974, die Einlieferung seines Lehrers Hensel, der Jude war, in ein KZ verhindert haben
  5. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 230.
  6. Volker Remmert Die DMV im „Dritten Reich“, Mitteilungen DMV 2004
  7. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/12730499
  8. Sanford Segal, Mathematicians under the Nazis, Princeton University Press, S. 162ff mit ausführlicher Schilderung des Verfahrens.
  9. Die Angaben darüber, womit sich seine Forschungsgruppe beschäftigte, schwankt. Nach Schappacher, Das Mathematische Institut der Universität Göttingen 1929–1950, S. 546, befasste sie sich mit Verfolgungskurven und Mitarbeiter war unter anderem Wilhelm Magnus und Karl Willy Wagner und in Göttingen Maximilian Schuler. Ob Zusammenhänge mit den Arbeiten in den requirierten Räumen des Mathematischen Instituts bestanden, wo nach offiziellen Angaben Hochdruckphysik betrieben wurde, ist nach Schappacher unklar. Nach Rainer Karlsch, Hitlers Bombe, DVA 2005, S. 45, baute er ab 1941 ein Forschungsinstitut des Marinewaffenamts am Wannsee auf (Oberleitung Konteradmiral Wilhelm Rhein), an dem auch kernphysikalische Forschung geleistet wurde sowie Forschung zur Raketenfernsteuerung. 1945 wurde das Institut nach Göttingen verlegt. Für die Berliner Marineforschung arbeiteten auch Fritz Houtermans, Otto Haxel, Pascual Jordan.
  10. Schappacher, Das Mathematische Institut an der Universität Göttingen 1929–1950, S. 538.
  11. Siegmund-Schultze, Mathematicians fleeing under the Nazis, S. 324. So widersetzten sich Lipman Bers und andere 1963 der Einladung von Hasse als Festredner bei der Gedenkfeier für Emil Artin bei der Mathematical Association of America in Colorado. Auf S. 333 werden Vorbehalte von ehemaligen Kollegen wie Courant und Weyl 1947 anlässlich der Wiederaufnahme von Kontakten nach Göttingen zitiert und S. 335 in einem Brief von Courant 1963.
  12. Constance Reid, Hilbert-Courant, Springer 1986, S. 474. Er schrieb Hitler Verdienste in der Annullierung des Versailler Friedensvertrags zu.
  13. Norbert Schappacher, Das Mathematische Institut der Universität Göttingen 1929–1950, S. 539.
  14. Seine Suspendierung als Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen wurde aber nicht zurückgenommen, siehe N. Schappacher: Ideologie, Wissenschaftspolitik, und die Ehre, Mitglied der Akademie zu sein.
  15. Holger Krahnke: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Folge 3, Band 246 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Folge 3, Band 50). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-525-82516-1, S. 105.