Niederpreußisch

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Historisches Verbreitungsgebiet des Niederpreußischen im äußeren Osten des niederdeutschen Sprachgebiets (vor 1945) in blau

Niederpreußisch ist ein Dialekt des Ostniederdeutschen, der bis 1945 in Ostpreußen, Westpreußen und Danzig gesprochen wurde. Auf baltischem Substrat verdrängte das Niederpreußische die altpreußische Sprache, die im 17. Jahrhundert ausstarb.

Einordnung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Niederpreußisch steht sprachwissenschaftlich im Kontrast zu den Dialekten mitteldeutscher Einwanderer (vor allem aus Schlesien), hauptsächlich in das Ermland, deren Dialekte Hochpreußisch genannt werden. Die spätere Einwanderung von Salzburger Exulanten im 18. Jahrhundert hat, bis auf einige Vokabeln, kaum Dialektspuren hinterlassen. Das Niederpreußische war nach 1945 mit dem Aussterben der sogenannten Erlebnisgeneration dem Untergang geweiht, da der Großteil der Niederpreußischsprecher zu Kriegsende aus Ostpreußen floh oder von dort bis 1948 vertrieben wurde. Die folgenden Generationen übernahmen teilweise den Dialekt der neuen Heimat (bzw. sprechen regional gefärbtes Hochdeutsch), und die wenigen in Ostpreußen Verbliebenen konnten ihren Heimatdialekt kaum sprechen, da sie sich sonst Repressionen aufgrund ihrer Herkunft ausgesetzt hätten. Bisweilen blieben einzelne Worte im familiären Wortschatz bis heute in Gebrauch, z. B. Lorbas und Marjell (siehe Wortbeispiele).

Als Plautdietsch bezeichnen die weltweit verstreut lebenden Russlandmennoniten ihr niederpreußisches Niederdeutsch. Heute wird es noch von etwa einer halben Million Menschen gesprochen. Die Russlandmennoniten sind Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Weichselmündungsgebiet nach Südrussland (in die heutige Ukraine) und von dort in alle Welt ausgewandert.

Sprachliche Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von den übrigen ostniederdeutschen Dialekten unterscheidet sich das Niederpreußische vor allem durch viele Gemeinsamkeiten in Phonetik, Grammatik und Wortschatz mit dem Hochpreußischen.

Die wichtigsten „Borussozismen“ sind:[1]

  • Ausfall des -n im Infinitiv – nach H. Frischbier nur in Ostpreußen und nicht in Westpreußen[2]
  • Beibehaltung des ge- im Partizip Perfekt (Fritz Reuter: Hei is lopen; Ostpreußen: He is gelope)
  • Entrundung (Kenig, Brieder, Fraide, Kraiter für Standarddeutsch König, Brüder, Freude, Kräuter)
  • Überoffene Aussprache des e (schnall, ack)
  • Vorliebe für Verkleinerungssilben (de lewe Gottke und hochpreußisch kommche, duche, Briefchedräger) – umlautlose Verkleinerungsformen (hochpreußisch Hundche, Katzche, Mutterche)
  • nuscht für Standarddeutsch nichts

Gliederung des Niederpreußischen (von Westen nach Osten)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Mundart des Weichselmündungsgebietes (Danzig)
  2. Mundart der Weichselwerder
  3. Nehrungsmundart: Mundart der Frischen Nehrung und der Danziger Nehrung (Binnennehrung)
  4. Mundart der Elbinger Höhe
  5. Käslausch[3]
    1. Mundart des Kürzungsgebietes am Frischen Haff (um Braunsberg und Frauenburg)
    2. Westkäslausch (um Mehlsack, nördlich der hochpreußischen Mundartinsel)
    3. Ostkäslausch (um Rössel und Bischofstein, östlich der hochpreußischen Mundartinsel)
  6. Natangisch-Bartisch (zwischen Pregeltal, Frischem Haff und ermländischer Nordostgrenze, s. a. Natangen)
  7. westsamländische Mundart (westliche Hälfte der Halbinsel Samland)
  8. ostsamländische Mundart (östliches Samland zwischen Pregel und Kurischem Haff)
  9. Mundart des Ostgebietes (zwischen dem Memelfluss, der litauischen Grenze und Masuren)

Aus dem ostpreußischen Wortschatz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei den hier aufgeführten Worten handelt es sich in vielen Fällen um Lehnworte aus den baltischen Sprachen, so dem Altpreußischen, Litauischen oder Nehrungskurischen, oder aus dem Polnischen bzw. dem Masurischen. Diese sind für die ostpreußischen Dialekte typisch oder eigentümlich und wurden zum Teil auch im hochdeutschen Sprachmilieu der Region verwendet.

  • Alus – Bier (nur vereinzelt; altpreußischer, prußischer Herkunft)
  • Bowke – mutwilliger kecker Bursche (bowa: Spiel, Unterhaltung, Kurzweil)
  • dätsch – dumm, unerfahren (dečios: Nestgelege)
  • Dubs – Gesäß (dubris: tiefe Stelle)
  • Flins – Pfannkuchen (plinxne: Fladen)
  • Gnaschel – kleiner unbedeutender Mensch, auch Kind (gnaužos: zurückgeblieben, stimmhaft zu sprechen, wie das zweite g in Garage)
  • jankere – Appetit auf etwas haben; schmachten (janka: mit Lust etwas wünschen)
  • Kobbel – Stute (kobele)
  • kopskiekeln – siehe Kopskiekelwein
  • Kujel – männliches Schwein (kuilis, tuilis: Eber)
  • Lorbas – ungeschlachter flegelhafter Mensch, aber auch liebevoll Lümmel, ungezogener frecher Junge (lorbe: in die Erde gehauener Keil zum Abstützen eines Gerüsts, Hauklotz)
  • Marjell, Margelle, Merjell, Mergel – Mädchen (mērgan, margellu: Mädchen, Jungfrau, Magd, ‚j‘ ist hier ein stimmhafter Kehllaut)[4]
  • Panewka – (Brat-)Pfanne
  • Pungel – Beutel (pungulis: Bündel)
  • schabbern – reden (žaberoti: plappern, schwatzen, ‚sch‘ wie das zweite g in Garage)
  • Schischke – Tannen- oder Kiefernzapfen (šiške, Singular)
  • Schucke – Kartoffel(n) (šukenes: Keulenpilz, Singular und Plural)
  • Wittine – flaches, roh gebautes Flussschiff

Gedicht Klingelschleede[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die in Natangen verwurzelte Schriftstellerin Erminia von Olfers-Batocki (1876–1954) schrieb das volkstümliche Gedicht Klingelschleede über die Kinder und den Klingelschlitten:[5]

Ek häbb e kleen Perdke, ek häbb ok e Pitsch,
Un e jrinlachtje Schleede, jewt dat e Jejlitsch!
Erscht Schnee is jefalle, rasch, Schimmelke vör!
Nu foahre wi Schleede, de kriez un de quer!
De Mitz uppe Kopp un de Feet mangket Stroh,
Fief Klingere am Schleede, dat bimmelt man so!
De Pitsch inner Fust un de Lien inne Händ,
Klinglustig! Doa kome de Kinder jerennt.
Un jederer schorrt, dat he upspringe kann!
He, Junges! Marjelles! Nu kick eener an!
Min Schemmel jait lustig met „Hussa“ un „Hopp!“
Juch! Schneeballkes suse em äwere Kopp.
Nu lustig, ju Kinder, inne Schleede krupt rin,
To Gast kimmt de Winder, dem klingre wi in.
Ich hab’ ein kleines Pferdchen, ich hab’ auch eine Peitsche,
Und einen grünlackierten(?) Schlitten, gibt das ein Geglitsch!
Erster Schnee ist gefallen, schnell, Schimmelchen (da)vor!
Nun fahren wir Schlitten, kreuz und quer!
Die Mütze auf dem Kopf, und die Füße im Stroh,
Fünf Glocken am Schlitten, das klingelt nur so!
Die Peitsche in der Faust und die Leine in der Hand,
Klinglustig! Da kommen die Kinder gerannt.
Und jeder stapft, dass er aufspringen kann!
He, Jungs! Mädchen! Nun schau einer an!
Mein Schimmel geht lustig mit „Hussa“ un „Hopp!“
Huch! Schneebällchen sausen ihm über den Kopf.
Nun lustig, ihr Kinder, in den Schlitten kriecht hinein,
Zu Gast kommt der Winter, dem klingeln wir ein.

Wörterbücher[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Preußisches Wörterbuch werden mehrere Wörterbücher aus dem 18. bis 21. Jahrhundert bezeichnet.

Tonträger[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ostpreussen lügen nie! Rudi Meitsch erzählt Wippchen und dumme Nuschten aus der Heimat. Rautenberg, Leer [um 1984].[6]
  • Humor’chen aus Ostpreußen. Gedichtchen, Anekdoten, Dammeleien. Rudi Meitsch erzählt vom Bullenball in Insterburg, dem Flohche, vom dicken Buttgereit und vielem mehr (Heiteres aus Ostpreußen). CD. Rautenberg, Leer [um 2002].

Plattdeutsche Autoren aus dem Sprachgebiet[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Walther Mitzka: Grundzüge nordostdeutscher Sprachgeschichte (= DDG 59). Elwert, Marburg 1959.
  • Erhard Riemann: Die preußische Sprachlandschaft. In: Festschrift für Friedrich von Zahn. Bd. 2, Köln/Wien 1971, S. 1–34.
  • Erhard Riemann (Hrsg.): Preußisches Wörterbuch. Bd. 1, Lf. 1, Wachholtz, Neumünster 1974.
  • Walther Ziesemer: Die ostpreußischen Mundarten. Proben und Darstellung. Hirt, Breslau 1924 (Digitalisat).
  • Walther Ziesemer: Die ostpreußischen Mundarten. In: Ostpreußen. Land und Leute in Wort und Bild. Mit 87 Abbildungen. Dritte Auflage. Gräfe und Unzer, Königsberg (Preußen) o. J. [um 1926], S. 78–81 (Digitalisat).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Nach Ziesemer 1926, Seite 79.
  2. Hermann Frischbier: Preußisches Wörterbuch. Ost- und westpreußische Provinzialismen in alphabetischer Folge. Erster Band. Berlin 1882, S. v: „Die plattdeutschen Infinitive haben meist ein (n); dieses gilt für die Aussprache derselben in Westpreußen, während in Ostpreußen das Schluß-n stets weggelassen wird.“
  3. Ulrich Tolksdorf (Hrsg.): Ermländische Protokolle: Alltagserzählungen in Mundart. 1991, S. 540
  4. Vgl. zu den unterschiedlichen Wortversionen Gerhard Bauer: „Kupst und Kaddig, Kupst und Kaddig“* Lituanismen im Ostpreußischen - Sprache und Alltag in Nord - Ostpreußen In: Annaberger Annalen 11 2003, S. 126 - Weblink: http://annaberger-annalen.de/jahrbuch/2003/AnnabergNr.11_Kap5.pdf
  5. Wir Ostpreußen, Folge 04 vom 20. Februar 1950
  6. Das Erscheinungsjahr ist auf der Plattenhülle nicht angegeben. Als eine Neuerscheinung figuriert diese Schallplatte in der Rezension im «Wehlauer Heimatbrief» (Folge 31, 1984, S. 69).