Notker Hammerstein

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Notker Hammerstein (* 3. Oktober 1930 in Offenbach am Main; † 13. März 2024 in Bad Homburg) war ein deutscher Historiker. Er lehrte als Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation veröffentlichte er zahlreiche Studien.

Leben und Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Notker Hammerstein war der Sohn des Volksschullehrers August Hammerstein (1890–1976).[1] Er besuchte das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium in Frankfurt am Main und legte dort 1949 das Abitur ab. Anschließend studierte er zunächst Nationalökonomie und Philosophie, später Geschichte, Philosophie und Anglistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1956 wurde er in Frankfurt bei Otto Vossler promoviert, war danach wissenschaftliche Hilfskraft und ab 1960 Assistent am Historischen Seminar. Im Jahr 1968 habilitierte er sich und erlangte die Venia legendi für Mittlere und Neuere Geschichte.

Im Jahr 1971 wurde Hammerstein im Zuge des neuen Hessischen Hochschulgesetzes zum Professor ernannt und 1972 auf eine Professur für Neuere Geschichte berufen. Trotz mehrerer Berufungen blieb er bis zu seiner Entpflichtung 1999 in Frankfurt am Main.[2] Sein Bruder Reinhold war Professor für Musikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, sein Bruder Gerhard Honorarprofessor für Strafrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.[3]

Seine Forschungsinteressen lagen vor allem auf dem Gebiet der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Verdienste erwarb er sich in der Fachwelt, indem er die Bildungs- und Universitätsgeschichte als ein eigenständiges Fachgebiet innerhalb der deutschen Frühneuzeitforschung verankert hat. Maßstäbe setzten seine Studien zur Geistes-, Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte der vormodernen Universitäten. Thematisch arbeitete er unter anderem zur Wahrnehmung des Heiligen Römischen Reiches im 16. Jahrhundert, der humanistischen Geschichtsschreibung oder der Bedeutung der Musik an deutschen und italienischen Fürstenhöfen. Er legte biographische Untersuchungen zu Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Thomasius, Christian Wolff und Justus Möser vor. Hammerstein befasste sich kritisch mit der traditionellen Geringschätzung der vormodernen Hohen Schulen und hob die zentrale Bedeutung dieser Bildungseinrichtungen für Recht, Kultur und Religion im Alten Reich hervor.[4] Er relativierte die Auffassung, der oft beklagte Niedergang der Universitäten habe bereits im 17. Jahrhundert begonnen. In eine Krise seien die Universitäten erst in der späten Aufklärung geraten.[5] Wegweisend wurde sein 1987 formuliertes Postulat, die Universitäten seien „eigentlicher Ort geistiger Selbstvergewisserung im Reich“ gewesen.[6]

Im Jahr 1999 publizierte Hammerstein ein Buch zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.[7] Ernst Klee nannte dieses Buch einen „Versuch der Reinwäsche“, da Hammerstein die Arbeit des NS-Psychiaters Robert Ritter als „allgemeinmedizinische Forschung“ bezeichnete, obwohl dieser Sinti und Roma in seinen „gutachtlichen Äußerungen“ in rassistischer Weise in „Voll-Zigeuner“, „Zigeuner-Mischlinge“ und „Nicht-Zigeuner“ eingeteilt hatte.[8] Im Jahr 2003 erschien von ihm eine Darstellung über Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert in der Enzyklopädie deutscher Geschichte.[9]

Hammerstein begann ohne geordnete Archivalien oder überhaupt ein Archiv die Arbeit an der Geschichte der Goethe-Universität. Er legte 1989 den ersten Band im Umfang von 900 Seiten zur Geschichte der 1914 gegründeten und damit noch relativ jungen Universität Frankfurt am Main vor. Der zweite Band mit erneut 900 Seiten erschien 2012 und befasste sich mit dem beschwerlichen Wiederaufbau nach dem Kriegsende bis zu den Jahren der Studentenrevolte. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums im Jahr 2014 wurde der abschließende dritte Band, in dem die Entwicklung von 1972 bis zur Gegenwart (Stand 2013) dargestellt wird, veröffentlicht.[10] Die Universitätsgeschichte wurde sein Lebenswerk. Als Einzelleistung hatte er in drei Bänden die Geschichte aller Institutionen und Personen der Hochschule aufgearbeitet.

Mitgliedschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 1986: Wahl in den Wissenschaftlichen Beirat der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 1991–1996 Beiratsvorsitzender
  • 1994: Wahl in den Wissenschaftlichen Beirat des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Universität Halle
  • stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (vier Jahre lang)
  • 1988–2006: deutscher Vertreter und stellvertretender Vorsitzender der International Commission of the History of Universities im Internationalen Historikerverband

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Monografien

  • Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1972, ISBN 3-525-36151-3 (zugleich Habilitationsschrift, Frankfurt am Main 1968).
  • Aufklärung und katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im 18. Jahrhundert (= Historische Forschungen. Band 12). Duncker & Humblot, Berlin 1977, ISBN 3-428-03948-3.
  • Humanismus und Universitäten. In: August Buck (Hrsg.): Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Vorträge, gehalten anläßlich des ersten Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel vom 2.–5. September 1978 (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Band 1). Hauswedell, Hamburg 1981, ISBN 3-7762-0205-X, S. 23–39.
  • Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945. Beck, München 1999, ISBN 3-406-44826-7.
  • Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
    • Band 1: Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule 1914–1950. Alfred Metzner Verlag, Neuwied / Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-472-00107-0.
    • Band 2: Nachkriegszeit und Bundesrepublik 1945–1972. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8353-0550-2.
    • Band 3: Ihre Geschichte in den Präsidentenberichten 1972–2013. Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1592-1.
  • Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933. Campus, Frankfurt am Main u. a. 1995, ISBN 3-593-35283-4.
  • Aus dem Freundeskreis der „Weißen Rose“. Otmar Hammerstein – eine biographische Erkundung. Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1384-2.

Herausgeberschaften

Aufsatzsammlungen

  • Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit (= Schriftenreihe des Frankfurter Universitätsarchivs. Band 3). Herausgegeben von Michael Maaser und Gerrit Walther. Wallstein Verlag, Göttingen 2010, ISBN 978-3-8353-0798-8.
  • Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte (= Historische Forschungen. Band 69). Herausgegeben von Ulrich Muhlack und Gerrit Walther. Duncker & Humblot, Berlin 2000, ISBN 3-428-09899-4.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Hammerstein, Notker. In: Friedhelm Golücke: Verfasserlexikon zur Studenten- und Hochschulgeschichte. SH-Verlag, Köln 2004, ISBN 3-89498-130-X, S. 128–131.
  • Matthias Alexander: Seines Bruders Biograph. Der Historiker Notker Hammerstein wird neunzig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2020, Nr. 230, S. 14.
  • Sascha Zoske: Zur Person. Kritischer Chronist. Notker Hammerstein schreibt die Geschichte der Goethe-Uni. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Juli 2013, Nr. 174, S. 44.
  • Patrick Bahners: Notker Hammerstein. Aufklärung über die Aufgeklärten. Der Historiker der deutschen Universität hat erforscht, warum ihr Geist in Unfreiheit umschlug. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. September 2010, Nr. 224, S. 36.
  • Gerrit Walther: Im öffentlichen Dienst seiner Universität. Bildung als Ideal und Fron: Zum Tod des Frankfurter Historikers Notker Hammerstein. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. März 2024, Nr. 66, S. 12

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Notker Hammerstein: Aus dem Freundeskreis der „Weißen Rose“. Otmar Hammerstein – eine biographische Erkundung. Göttingen 2014, S. 15, 17, 22.
  2. Notker Hammerstein: Das Historische Seminar der Frankfurter Universität. In: Evelyn Brockhoff, Bernd Heidenreich, Michael Maaser (Hrsg.): Frankfurter Historiker. Göttingen 2017, S. 15–57, hier: S. 50.
  3. Notker Hammerstein: Aus dem Freundeskreis der „Weißen Rose“. Otmar Hammerstein – eine biographische Erkundung. Göttingen 2014, S. 14 f.
  4. Notker Hammerstein: Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. In: Historische Zeitschrift, 241, 1985, S. 287–328.
  5. Vgl. dazu Matthias Pohlig in: Zeitschrift für Historische Forschung, 39, 2012, S. 476–477.
  6. Notker Hammerstein: Schule, Hochschule und Res Publica literaria. In: Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann (Hrsg.): Res Publica litteraria. Wiesbaden 1987, S. 93–110, hier: S. 94. Vgl. dazu auch Thomas Töpfer in: Historische Zeitschrift, 298, 2014, S. 191–192.
  7. Vgl. dazu die Besprechung von Ingo Haar in: H-Soz-Kult, 25. September 2000, (online).
  8. Ernst Klee: NS-Behindertenmord. Verhöhnung der Opfer und Ehrung der Täter. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. Internet-Ausgabe, Heft 6, 1999, ZDB-ID 2023208-1, online; Ernst Klee: Deutsches Blut und leere Aktendeckel. In: Die Zeit, 12. Oktober 2000. Abgerufen am 20. Mai 2021.
  9. Vgl. dazu die Besprechung von Anton Schindling in: Historische Zeitschrift, 279, 2004, S. 183–185.
  10. Vgl. dazu die Besprechung von Karsten Jedlitschka in: Historische Zeitschrift, 302, 2016, S. 872–873.