Semra Ertan

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Semra Ertan (* 26. Mai 1957[1] in Mersin, Türkei; † 26. Mai 1982 in Hamburg) war eine türkische Arbeitsmigrantin und Schriftstellerin in der Bundesrepublik Deutschland, die sich aus Protest gegen Rassismus öffentlich selbst verbrannte. Sie arbeitete als Dolmetscherin und technische Bauzeichnerin.

Leben/Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Semra Ertan war die Tochter von Gani Bilir und Vehbiye Bilir, die in Kiel/Hamburg als türkische Gastarbeiter lebten. Als sie 14 Jahre alt war, zog sie kurze Zeit nach der Ankunft der Eltern mit ihren sechs Schwestern ebenfalls nach Deutschland. 1976 notierte sie, in ihrem Leben schreiben zu wollen. In einem Brief an einen Verleger schrieb sie 1982: „Ich bin am 26.5.1957 in Mersin, in der Türkei, geboren worden und habe die Grund- sowie die Realschule dort absolviert.“ In Deutschland sei ihr der Besuch eines Gymnasiums oder die Erlangung eines akademischen Grads nicht möglich gewesen. Sie begann eine Ausbildung als technische Bauzeichnerin, dolmetschte ehrenamtlich für andere Migranten in Deutschland und arbeitete in verschiedenen Betrieben. Gleichzeitig widmete sie sich der Lyrik. Eines ihrer bekanntesten Gedichte Mein Name ist Ausländer (verfasst am 7. November 1981) wurde in der Türkei in Schulbüchern veröffentlicht. Außerdem erschienen ihre Gedichte in Deutschland in einigen Büchern, fanden jedoch erst viele Jahre nach ihrem Tod, als ihr erstes eigenständiges Buch veröffentlicht wurde, etwas Beachtung.[2] Sie schrieb über 350 Gedichte und politische Satiren.

Umstände des Suizids[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ertan rief am Vorabend beim NDR und beim ZDF an, las ihr Gedicht Mein Name ist Ausländer vor und forderte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben sollten, wie Menschen zu leben, sondern auch wie Menschen behandelt zu werden.[3] Medien zufolge kündigte sie in diesem Anruf auch ihren Suizid durch Selbstverbrennung an und erklärte das Motiv für ihre Tat:[4] Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland sei der Grund für ihren Entschluss, vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit zu sterben.

Die öffentliche Selbstverbrennung Semra Ertans ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 24. Mai 1982 an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße/Detlev-Bremer-Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli.[5] Polizisten aus einem zufällig vorbeifahrenden Streifenwagen versuchten, die Flammen mit Decken zu ersticken. Ertan starb zwei Tage später im Krankenhaus; mehr als die Hälfte ihrer Haut war verbrannt.[4][6]

Situation der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland zum Tatzeitpunkt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die subjektive Einschätzung der jungen Frau einer drastisch zunehmenden Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar vor ihrem Tod wird von statistischen Daten und durch soziologische Studien unterstützt.[7] So waren es im November 1978 noch 39 % der Deutschen, die die Forderung, die Ausländer sollten in ihre Heimatländer zurückkehren, unterstützten, während zwei Monate vor Ertans Tod bereits 68 % der Bundesdeutschen dieser Meinung waren.[8] Auch rechtsmotivierte Gewalttaten gegenüber Ausländern waren 1982 keine Einzelerscheinung mehr.[8] Zudem gab es politische Gruppierungen wie die Bürgerinitiative Ausländerstopp oder die Kieler Liste für Ausländerbegrenzung, die nachweislich beachtlichen Zulauf erreichen konnten. Des Weiteren wurden Ausländer mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Leben der BRD ausgeschlossen, der Kontakt mit ihnen seitens der Deutschen möglichst gemieden. Gründe hierfür waren u. a. in der wachsenden Arbeitslosigkeit und Wohnungsknappheit in der BRD zu sehen, die dazu führte, dass der Arbeitsmigrant in der deutschstämmigen Gesellschaft zunehmend als Konkurrent um Arbeitsplatz und Wohnraum gesehen wurde. Der kaum stattfindende Kontakt zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Gruppen verstärkte zudem kaum auf eigenen Erfahrungen beruhende negative Vorurteile gegenüber den ehemaligen Gastarbeitern.[8]

Reaktionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Reaktion auf die Tat titelte die große türkische Tageszeitung Milliyet am 3. Juni 1982 ganzseitig mit einem zweisprachigen Aufruf (türkisch und deutsch) an die bundesdeutsche Politik und Gesellschaft, notwendige Schritte gegen die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland einzuleiten.

Es entstanden diverse musikalische Verarbeitungen des Schicksals von Semra Ertan z. B. Semra Ertan (1982), ein Adagio und Scherzo für Oktett von Enjott Schneider oder Ilhan Mimaroglus englischsprachige Immolation Scene (1983), das aus dem Türkischen übersetzte Gedichte der Suizidentin in das Gesamtkonzept mit aufnahm.

Kurz nach Ertans Tod demonstrierten in Hamburg um die 5.000 Menschen gegen Rassismus. Im gleichen Jahr sendete der WDR im Magazin Monitor eine Reportage über Semra Ertan mit dem Titel Tod einer Türkin.[9]

Günter Wallraff widmete sein Buch Ganz unten 1985 namentlich u. a. Semra Ertan, schrieb den Namen jedoch falsch, im Buch steht Semra Ertam, was in neueren Auflagen korrigiert wurde.

Eine Initiative in Hamburg setzt sich dafür ein, dass die Hamburger Straße, an der Semra Ertan verstarb, nach ihr benannt wird.[10] Anfang 2024 wurde ein Antrag diesbezüglich aus Angst vor Nachahmern vom zuständigen Ausschuss per Mehrheitsentscheid abgelehnt.[11]

In Kiel-Friedrichsort wurde am 8. Juli 2023 der Semra-Ertan-Platz eingeweiht.[12]

Buchveröffentlichung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Jahr 2020 wurde die erste eigenständige Buchpublikation von Ertans Arbeiten unter dem Titel Mein Name ist Ausländer auf Türkisch und Deutsch veröffentlicht. Der von ihrer Schwester Zühal Bilir-Meier und ihrer Nichte Cana Bilir-Meier herausgegebene Band enthält Gedichte, Notizen, Briefe, Fotos und handschriftliche Aufzeichnungen Ertans.[13] Für dieses Werk wurde Ertan im Jahr 2021 postum eine außerordentliche Alfred Döblin-Medaille zuerkannt.[14]

Film[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Synopsis Regie Cana Bilir-Meier, Deutschland/Österreich 2013, 8', Experimentalfilm

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Semra Ertan: Mein Name ist Ausländer. Benim Adım Yabancı. (Gedichtband, Auswahl durch Zühal Bilir-Meier und Cana Bilir-Meier) edition asssemblage, Münster 2020, ISBN 978-3-96042-095-8.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Quellen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Leyla Sophie Gleissner: Semra Ertan: Schreiben ohne Namen. In: Die Zeit. 29. Dezember 2020, abgerufen am 25. Januar 2021.
  2. Leyla Sophie Gleissner: Semra Ertan : Schreiben ohne Namen. In: Die Zeit. 29. Dezember 2020, abgerufen am 31. Dezember 2020.
  3. . Aydin, F. Erkan, Ö. Bag: Her Story 2020. In: forumdialog.org. Abgerufen am 20. August 2021. S. 8.
  4. a b Thembi Wolf: Warum sich die 25-jährige Semra auf St. Pauli angezündet hat. In: vice.com. 16. Dezember 2020, abgerufen am 20. August 2021.
  5. Hamburger Abendblatt vom 1. Juni 1982 (Memento vom 28. Juli 2014 im Internet Archive)
  6. # 59 Der Tag, an dem… sich Semra Ertan das Leben nahm auf YouTube, abgerufen am 10. August 2021.
  7. Walter Friedrich: Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Orientierungen bei ostdeutschen Jugendlichen. Digitale Bibliothek der Friedrich Ebert-Stiftung, ges. November 2007
  8. a b c Harenberg, Chronik des 20. Jahrhunderts. S. 1183
  9. Thembi Wolf: Warum sich die 25-jährige Semra auf St. Pauli angezündet hat. In: Vice Magazine. 16. Dezember 2020, abgerufen am 31. Dezember 2020.
  10. Leyla Sophie Gleissner: Semra Ertan : Schreiben ohne Namen. In: Die Zeit. 29. Januar 2020, abgerufen am 31. Dezember 2020.
  11. Semra Ertan'ı Anma İnisiyatifi. 3. März 2024, abgerufen am 7. März 2024 (deutsch).
  12. Alexander Diehl: "Von Fremdenfeindlichkeit erzählt", Taz vom 8. Juli 2023
  13. Leyla Sophie Gleissner: Semra Ertan : Schreiben ohne Namen. In: Die Zeit. 29. Januar 2020, abgerufen am 31. Dezember 2020.
  14. Karosh Taha geehrt, boersenblatt.net, erschienen und abgerufen am 31. März 2021.