Technologiesouveränität

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Technologiesouveränität oder technologische Souveränität bezeichnet die eigenständige Entwicklungs-, Produktions- und Distributionskompetenz einer staatlichen oder supranationalen Entität sowie dessen Fähigkeit zur lokalen Wertschöpfung. Diese kann auf einzelne industrielle Branchen oder Anwendungsfelder eingegrenzt werden.

Eckpunkte der Technologiesouveränität

Begriffsentstehung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Technologische Souveränität soll Staaten oder Staatenbünden ermöglichen, Technologien und kritische Infrastrukturen, die sie für sich „als kritisch für Wohlfahrt, Wettbewerbsfähigkeit und staatliche Handlungsfähigkeit“ definieren, „selbst vorzuhalten und weiterentwickeln zu können, oder ohne einseitige strukturelle Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsräumen beziehen zu können“.[1] Sie ziele auf „internationale Kooperation auf Augenhöhe“ ab.[2] Der Begriff wird insbesondere im europäischen Raum seit Mitte der 2010er-Jahre – womöglich erstmals durch Stefan Mair 2015[3] – verwendet, um auf mögliche volkswirtschaftliche und sicherheitspolitische Risiken globaler Lieferketten und Outsourcing hinzuweisen. Dies kann neben der Wahrung der Souveränität im klassischen Sinne auch nachgeordnete Aspekte der internationalen Konkurrenzfähigkeit ansässiger Unternehmen und den Informationsgrad und Bildungsstand der Gesamtbevölkerung umfassen. Gelegentlich wird Technologiesouveränität auch mit Rohstoffgewinnung und dem Schutz der Menschenrechte verknüpft, beispielsweise durch das Lieferkettengesetz.[4][5]

Beispiele und Vorhaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Deutschland und Europa[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

„Um die Digitalisierung zu gestalten müssen deshalb in erster Linie die ihr zugrunde liegenden Technologien beherrscht werden. Deutschland muss sich hier seine Technologiesouveränität bewahren. Sie ist das Fundament digitaler Souveränität.“

Unter dem Schlagwort Digitale Souveränität wurden erstmals die Gestaltungsmacht US-amerikanischer Internetplattformen und die Gefährdung der IT-Sicherheit durch mutmaßlich russische Cyberangriffe aufgegriffen. Exemplarisch sind auch die Debatte um den Ausbau des 5G-Mobilfunkstandards ab 2018 zu nennen, die einen Technologievorsprung des chinesischen Anbieters Huawei thematisierte,[7][8] sowie die Diskussion um die geostrategische Relevanz und mögliche Gefährdung des taiwanesischen Halbleiterherstellers TSMC[9][10] und der Dresdner Globalfoundries-Werke,[11] auf die auf Technologiesouveränität abzielende Projekte wie COREnect[12] und das IPCEI für Mikroelektronik[13] folgten. Auch die COVID-19-Pandemie beförderte die Forderungen aufgrund Unsicherheiten in der Lieferkette persönlicher Schutzausrüstung wie Atemschutzmasken.[14]

Der Programmentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Bundestagswahl 2021 sieht die Sicherung „technologischer Souveränität“ von Schlüsseltechnologien vor.[15] Der Koalitionsvertrag einer bevorstehenden Ampel-Koalition bezeichnet technologische Souveränität als eines der sechs zentralen „Zukunftsfelder“ der Bundesrepublik Deutschland.[16]

Vereinigte Staaten von Amerika[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ende Februar 2021 unterzeichnete der US-amerikanische Präsident Joe Biden mehrere Exekutivanweisungen zur Analyse kritischer Wertschöpfungsketten wie Pharmazeutika, Batteriezellen und seltenen Erden. Auslöser war die nachfragebedingte Verknappung von integrierten Schaltkreisen und insbesondere Grafikkarten im Zuge der COVID-19-Pandemie, die Lieferengpässe bei Automobilherstellern zur Folge hatte. Der demokratische Senatsführer Chuck Schumer regte zeitgleich ein 100 Milliarden Dollar großes Investitionspaket für den Forschungs- und Produktionssektor der Vereinigten Staaten an.[17]

Nicht-staatliche Initiativen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das FabCity-Netzwerk versammelt Städte und Kommunen, die bis 2054 alle Gebrauchs- und Konsumgüter mittels Open-Source-Hardware selbst produzieren wollen.[18][19] Dies wird als sicherheitspolitische Chance und zum Ersatz unterbrochener Lieferketten diskutiert.[20] Die europäische Bewegung DiEM25 bezieht Technologiesouveränität auf individuelle Mündigkeit wie Kompetenzen und plädiert im Zuge dessen für Datengewerkschaften und die Förderung von Plattformgenossenschaften im High-Tech-Segment.[21]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

»Tech sovereignty is moving from talking points to actual policy. That's definitely a concern.«

„Technologiesouveränität wird von Phrasen zu tatsächlicher Politik. Das ist definitiv beunruhigend.“

Definierte Tragweite und Umsetzbarkeit von Technologiesouveränität sind vielfach umstritten und gelegentlich Vorwürfen des Protektionismus ausgesetzt,[23][24] was EU-Kommissar Thierry Breton zurückwies.[25] Branchenverbände erhoffen sich von der Policy vor allem strategische Forschungs- und Wirtschaftsförderung[26] sowie Technologietransfer durch ein erleichtertes Teilen von Geschäftsdaten wie durch Gaia-X[27] und weisen auf einen europäischen Nachteil in der Verfügbarkeit von Wagniskapital hin. Chancen lägen dagegen in der Standardisierung und Normung.[28]

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft bezeichnete die Verwendung des Schlagworts 2019 als neuen „Trend zur Autarkie“, der die „Wohlstandsvorteile der Globalisierung“ gefährde.[29] Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) weist in ihrem Jahresgutachten 2021 darauf hin, dass das Konzept nicht dazu missbraucht werden dürfe, „um den Strukturwandel aufzuhalten und international nicht mehr wettbewerbsfähige Industrien zu schützen“. Dennoch solle Technologiesouveränität bei der Forschungs- und Innovationsförderung berücksichtigt werden.[30]

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) plädierte 2020 für ein transatlantisches Netzwerk für Digitalpolitik, denn technologische Souveränität sei „nichts weniger als europäische Außenpolitik“.[31] André Loesekrug-Pietri, Direktor der europäischen Innovationsagentur Joint European Disruptive Initiative (JEDI), wies auf dagegen auf die der europäischen Technologiesouveränität zuwiderlaufenden Tendenz vieler EU-Staaten hin, indirekt US-amerikanische Technologieunternehmen zu stärken. Zur Umsetzung des Konzepts brauche es neben der Behebung dieser Handlungen vor allem Bürokratieabbau.[32]

Carnegie Europe wies auf die stark wertebasierte Vorstellungen von Technologiesouveränität in der Europäischen Union hin,[33] was gelegentlich Raum für nationalistische Rhetorik gebe.[34]

Wolfgang Bonß sieht im Begriff ein „mehrdimensionales Phänomen“, das „einen längeren Diskussionsprozess“ erfordere. Derzeitige Ansätze täuschten eine „begriffliche Präzision vor, die argumentativ kaum gegeben“ sei.[3]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Jakob Edler et al.: Technologiesouveränität. Von der Forderung zum Konzept. Hrsg.: Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. Karlsruhe Juni 2020, S. 3.
  2. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Rahmenprogramm der Bundesregierung für Forschung und Innovation 2021 bis 2024. Mikroelektronik – Vertrauenswürdig und nachhaltig – Für Deutschland und Europa. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Band 19, Nr. 24557. Berlin / Bonn 30. November 2020, S. 3 (bundestag.de [PDF]).
  3. a b Wolfgang Bonß: Was heißt "technologische Souveränität"? Aspekte einer Diskursentwicklung. Arbeitspapier im Rahmen des BMBF-Fachdialogs Sicherheitsforschung. Hrsg.: Forschungszentrum Risiko, Infrastruktur, Sicherheit und Konflikt. Universität der Bundeswehr München. Neubiberg 1. Februar 2021 (sifo-dialog.de [PDF]).
  4. SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.): Souveränes Europa. Positionspapier. Berlin 27. Oktober 2020 (Online [PDF]).
  5. 10 Thesen zur Technologiesouveränität. In: Rat für Forschung und Technologieentwicklung (Hrsg.): Neujahrsempfang des Rates für Forschung und Technologieentwicklung. 18. Januar 2021 (rat-fte.at [PDF]).
  6. Wolf-Dieter Lukas: Kompetenzen und Technologiesouveränität als Voraussetzungen für die Selbstbestimmtheit von Staat und Individuen im digitalen Wandel. In: Mike Friedrichsen, Wulf Wersig (Hrsg.): Digitale Kompetenz: Herausforderungen für Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik (= Synapsen im digitalen Informations- und Kommunikationsnetzwerk). Springer Fachmedien, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-22109-6, S. 145–151, doi:10.1007/978-3-658-22109-6_15.
  7. Lisa Hegmann: Bundesregierung will Hersteller bei 5G-Ausbau notfalls ausschließen. In: Zeit Online. 21. November 2020, abgerufen am 9. Februar 2021.
  8. Achim Sawall: Handelskrieg. Wer den 5G-Ausschluss von Huawei in Deutschland will. In: Golem.de: IT-News für Profis. Abgerufen am 9. Februar 2021.
  9. John Lee, Jan-Peter Kleinhans: Taiwan, Chips, and Geopolitics. Part 1. In: The Diplomat. 10. Dezember 2020, abgerufen am 9. Februar 2021 (amerikanisches Englisch).
  10. Joachim Hofer, Moritz Koch: Autochips. Der Taiwaner Auftragsfertiger TSMC ist für Autobauer unersetzlich – vorerst. In: Handelsblatt. 25. Januar 2021, abgerufen am 9. Februar 2021.
  11. Felix von Leitner: Kommentar. Digitale Souveränität zum Schnäppchenpreis. Von Europa und Mozilla. In: heise online. 19. August 2020, abgerufen am 19. Februar 2021.
  12. Gerhard P. Fettweis: In Europa für Europa. COREnect koordiniert die Entwicklung von Kerntechnologien für 5G. In: TU Dresden. Barkhausen Institut, TU Dresden, 10. Juli 2020, abgerufen am 9. Februar 2021.
  13. What is IPCEI. In: IPCEI on Microelectronics. Globalfoundries Management Services Limited Liability Company & Co. KG, abgerufen am 9. Februar 2021 (amerikanisches Englisch).
  14. Andreas Rinke: "Operation Schutzmaske" – Warum Unabhängigkeit von China so schwierig ist. In: Reuters. 19. November 2020 (Online [abgerufen am 9. Februar 2021]).
  15. Bündnis 90/Die Grünen (Hrsg.): Deutschland. Alles ist drin. Programmentwurf zur Bundestagswahl 2021. Berlin 19. März 2021, S. 39 (gruene.de [PDF]).
  16. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. In: Tagesspiegel. Berlin 24. November 2021, S. 20 (archive.org [PDF]).
  17. Winand von Petersdorff, Washington: Wettstreit mit China: Joe Biden will Computer-Chips und Batterien für Amerika sichern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24. Februar 2021, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 27. Februar 2021]).
  18. Fab City Network. Locally Productive, Globally Connected Cities. In: Fab City Global Initiative. Fab Foundation et al., abgerufen am 9. Februar 2021 (englisch).
  19. Helga Hansen: Fab City Hamburg: Millionenförderung für neue OpenLabs. In: heise online. 26. Januar 2021, abgerufen am 9. Februar 2021.
  20. Joshua M. Pearce: Strategic Investment in Open Hardware for National Security. In: Technologies. Band 10, Nr. 2, 18. April 2022, ISSN 2227-7080, S. 53, doi:10.3390/technologies10020053 (mdpi.com [abgerufen am 14. Juli 2022]).
  21. Claudio Agosti et al.: Technological Sovereignty. Democratising Technology and Innovation. Green Paper No. 3. Hrsg.: Democracy in Europe Movement 2025. 2019 (diem25.org [PDF]).
  22. Nicholas Vinocur: Europe and the US are drifting apart on tech. Joe Biden wouldn’t fix that. Politico Europe, 3. November 2020, abgerufen am 27. Februar 2021.
  23. Tobias Knobloch: Technologische Souveränität und Gemeinwohl. In: Stiftung Neue Verantwortung. 1. Februar 2017, abgerufen am 9. Februar 2021.
  24. Matthias Bauer, Fredrik Erixon: Europas Streben nach Technologiesouveränität. Chancen und Risiken für Deutschland und die Europäische Union. In: European Centre for International Political Economy. Juni 2020, abgerufen am 9. Februar 2021.
  25. Nick Flaherty: US and EU on collision course over semiconductor industry. In: eeNews Europe (electronics europe News). European Business Press SA, 12. Februar 2021, abgerufen am 21. Februar 2021 (englisch).
  26. Melanie Unseld: VDE-Studie „Technologische Souveränität“. Pressemitteilung. In: Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationtechnik. 24. Februar 2020, abgerufen am 9. Februar 2021.
  27. Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (Hrsg.): Technological Sovereignty, Industrial Resilience and European Competences. The electrical industry’s view on Europe’s recovery post-Covid-19 and future industrial strategy. Discussion Paper. Oktober 2020 (Online [PDF]).
  28. Ina Schieferdecker, Christoph March: Digitale Innovationen und Technologiesouveränität. In: Wirtschaftsdienst. Band 100, S1, April 2020, ISSN 0043-6275, S. 30–35, doi:10.1007/s10273-020-2612-8.
  29. Dirk Dohse, Gabriel Felbermayr et al.: Zeit für eine neue Industriepolitik? Positionspapier des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zum Entwurf einer Nationalen Industriestrategie 2030. In: Kiel Policy Brief. Nr. 122, März 2019, ISSN 2195-7525.
  30. Irene Bertschek et al.: Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands. Gutachten 2021. Hrsg.: Geschäftsstelle der Expertenkommission Forschung und Innovation. Berlin 24. Februar 2021, S. 33 (Online [PDF]).
  31. Tyson Barker: Die EU braucht eine digitale Außenpolitik. In: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. 16. November 2020, abgerufen am 27. Februar 2021.
  32. André Loesekrug-Pietri: Standpunkt. Tech-Souveränität. Endlich konkret werden. In: Tagesspiegel Background. Verlag Der Tagesspiegel GmbH, 14. September 2020, abgerufen am 27. Februar 2021.
  33. Anu Bradford, Raluca Csernatoni: Toward a Strengthened Transatlantic Technology Alliance. Working With the Biden Administration: Opportunities for the EU. In: Carnegie Europe. Carnegie Endowment for International Peace, 26. Januar 2021, abgerufen am 27. Februar 2021 (englisch).
  34. Éanna Kelly: Decoding Europe’s new fascination with ‘tech sovereignty’. In: Science|Business. 3. September 2020, abgerufen am 27. Februar 2021 (englisch).