Schweizer Parlamentswahlen 1908
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Die Schweizer Parlamentswahlen 1908 fanden am 29. Oktober 1908 statt. Zur Wahl standen 167 Sitze des Nationalrates. Die Wahlen wurden nach dem Majorzwahlrecht vorgenommen, wobei das Land in 49 unterschiedlich grosse Nationalratswahlkreise unterteilt war. Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) erreichte sowohl bei den Mandaten als auch beim Wähleranteil die absolute Mehrheit, während die Sozialdemokraten ihre drei Jahre zuvor erlittenen Verluste wettmachen konnten. Das neu gewählte Parlament trat in der 21. Legislaturperiode erstmals am 7. Dezember 1908 zusammen.
Wahlkampf
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Am selben Tag wie die Wahlen fand auch eine Abstimmung über eine Verfassungsbestimmung betreffend Nutzung der Wasserkraft statt, die aber parteipolitisch weitgehend unbestritten war. Beherrschendes Wahlthema war wie schon 1905 der scharfe Gegensatz zwischen Freisinnigen und Sozialdemokraten, wobei der Graben zwischen beiden Lagern noch tiefer geworden war. Die Freisinnigen sahen sich genötigt, sich vor allem mit der Sozialpolitik zu beschäftigen; die von ihnen propagierte umfassende Sozialversicherungsgesetzgebung wurde aber erst Jahrzehnte später verwirklicht. Aufgrund einer einsetzenden Rezession gab es zwischen 1905 und 1908 mehr als 200 Streiks. Zur Entschärfung der sozialen Lage befürwortete der linke FDP-Flügel die Koalitionsfreiheit und die Einführung von Schiedsgerichten, was aber umgehend den Widerstand des wirtschaftsfreundlichen Parteiflügels hervorrief. Die Kantonsregierungen von Zürich, Bern und Graubünden erliessen Antistreikgesetze, was die Stimmung weiter anheizte.[1]
Zunehmende militärische Einsätze gegen Streiks (hauptsächlich eine Überreaktion lokaler Behörden auf das für sie völlig neuartige Phänomen der Massenstreiks) führten zu einer Entfremdung der Sozialdemokraten von der Armee. Zahlreiche sozialdemokratische Armeeangehörige verweigerten den Dienst, was es den Bürgerlichen erlaubte, ihre politischen Gegenspieler als unpatriotisch hinzustellen. Extremisten beider Lager übertönten kompromissbereite Kreise. Auf Argwohn innerhalb der FDP stiess eine freisinnig-sozialdemokratische Allianz im Kanton Tessin, die aber auf einer Wiederbelebung des Kulturkampfs basierte und hauptsächlich der Verteidigung eines laizistischen Schulgesetzes diente. Innerhalb des katholisch-konservativen Lagers drängte der christlichsoziale Flügel auf eine Verständigung zwischen Wirtschaft und Arbeiterschaft, womit sie thematisch den Demokraten nahestand.[2]
Während der 20. Legislaturperiode hatte es aufgrund von Vakanzen 17 Ersatzwahlen in 13 Wahlkreisen gegeben, dabei kam es nur zu geringen Sitzverschiebungen. 1908 gab es insgesamt 56 Wahlgänge (zwei weniger als drei Jahre zuvor). In 42 von 49 Wahlkreisen waren die Wahlen bereits nach dem ersten Wahlgang entschieden. Mit den letzten Wahlgängen am 15. November 1908 war der Nationalrat komplett. Die Wahlbeteiligung sank im Vergleich zu 1905 um 3,8 Prozentpunkte. Den höchsten Wert wies der Kanton Aargau auf, wo 83,1 % ihre Stimme abgaben. Über 80 % Beteiligung verzeichneten auch die Kantone Thurgau und Schaffhausen. Am tiefsten war sie im Kanton Zug, wo nur gerade 16,1 % an den Wahlen teilnahmen. Die FDP konnte ihre Stellung als stärkste Kraft behaupten und erreichte einen Wähleranteil von über 50 %. Wahlsiegerin war die SP, die ihre fünf Sitzverluste von 1905 auf Kosten der liberalen Mitte wieder wettmachen konnte. Die konservative Bernische Volkspartei konnte den Sitz ihres verstorbenen Parteiführers Ulrich Dürrenmatt nicht verteidigen und spielte in der Folge keine Rolle mehr.
Ergebnis der Nationalratswahlen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gesamtergebnis
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Von 809'508 volljährigen männlichen Wahlberechtigten nahmen 426'752 an den Wahlen teil, was einer Wahlbeteiligung von 52,7 % entspricht.[3]
Die 167 Sitze im Nationalrat verteilten sich wie folgt:[4][5]
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Hinweis: Eine Zuordnung von Kandidaten zu Parteien und politischen Gruppierungen ist nur bedingt möglich (mit Ausnahme der Freisinnigen und Sozialdemokraten). Der politischen Wirklichkeit des frühen 20. Jahrhunderts entsprechend kann man eher von Parteiströmungen oder -richtungen sprechen, deren Grenzen teilweise fliessend sind. Die verwendeten Parteibezeichnungen sind daher eine ideologische Einschätzung.
Ergebnisse in den Kantonen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die nachfolgende Tabelle zeigt die Verteilung der errungenen Sitze auf die Kantone.[6][7]
Kanton | Sitze total | Wahl- kreise | Betei- ligung | FDP | KK | LM | SP | DL | BVP | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Aargau | 10 | 4 | 83,1 % | 7 | 3 | +1 | − | −1 | |||||||
Appenzell Ausserrhoden | 3 | 1 | 69,7 % | 2 | −1 | 1 | +1 | ||||||||
Appenzell Innerrhoden | 1 | 1 | 75,6 % | 1 | +1 | − | −1 | ||||||||
Basel-Landschaft | 3 | 1 | 31,0 % | 2 | 1 | ||||||||||
Basel-Stadt | 6 | 1 | 47,5 % | 3 | 2 | 1 | |||||||||
Bern | 29 | 7 | 41,0 % | 24 | 2 | 2 | 1 | +1 | − | −1 | |||||
Freiburg | 6 | 3 | 40,3 % | 1 | 5 | ||||||||||
Genf | 7 | 1 | 42,9 % | 3 | +1 | − | −1 | 4 | |||||||
Glarus | 2 | 1 | 57,2 % | 2 | |||||||||||
Graubünden | 5 | 1 | 53,0 % | 3 | 1 | 1 | |||||||||
Luzern | 7 | 3 | 29,8 % | 3 | 4 | ||||||||||
Neuenburg | 6 | 1 | 32,7 % | 5 | 1 | ||||||||||
Nidwalden | 1 | 1 | 24,6 % | 1 | |||||||||||
Obwalden | 1 | 1 | 34,4 % | 1 | |||||||||||
Schaffhausen | 2 | 1 | 80,0 % | 2 | |||||||||||
Schwyz | 3 | 1 | 61,8 % | 1 | 2 | ||||||||||
Solothurn | 5 | 1 | 52,3 % | 4 | 1 | ||||||||||
St. Gallen | 13 | 5 | 79,2 % | 5 | 6 | 1 | 1 | ||||||||
Tessin | 7 | 2 | 55,9 % | 5 | 1 | −1 | 1 | +1 | |||||||
Thurgau | 6 | 1 | 82,6 % | 4 | 1 | 1 | |||||||||
Uri | 1 | 1 | 36,3 % | 1 | |||||||||||
Waadt | 14 | 3 | 21,8 % | 11 | +1 | 3 | −1 | ||||||||
Wallis | 6 | 2 | 45,0 % | 1 | 5 | ||||||||||
Zug | 1 | 1 | 16,1 % | 1 | |||||||||||
Zürich | 22 | 4 | 74,9 % | 18 | ±0 | 2 | −1 | 2 | +2 | − | −1 | ||||
Schweiz | 167 | 49 | 52,7 % | 105 | +1 | 35 | ±0 | 15 | −4 | 7 | +5 | 5 | −1 | − | −1 |
Ständerat
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Wahlberechtigten konnten die Mitglieder des Ständerates in 18 Kantonen selbst bestimmen: In den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Genf, Graubünden, Luzern, Schwyz, Solothurn, Tessin, Thurgau, Zug und Zürich an der Wahlurne, in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus, Nidwalden, Obwalden und Uri an der Landsgemeinde. In allen anderen Kantonen erfolgte die Wahl indirekt durch die jeweiligen Kantonsparlamente. In vielen Kantonen fanden die Ständeratswahlen damals zudem nicht gleichzeitig mit den Nationalratswahlen statt.
Sitzverteilung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Sitzverteilung im Ständerat sah wie folgt aus:
Partei | Wahlen 1908 | Wahlen 1905 |
---|---|---|
FDP | 26 | 26 |
KK | 16 | 16 |
LM | 1 | 1 |
DP | 1 | 1 |
Gewählte Ständeräte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, erster Teil. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1442-9.
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 1, zweiter Teil. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1443-7.
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 2. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1444-5 (Anmerkungen).
- Erich Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919. Band 3. Francke Verlag, Bern 1978, ISBN 3-7720-1445-3 (Tabellen, Grafiken, Karten).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 1, zweiter Teil, S. 768–769.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 1, zweiter Teil, S. 770–772.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 3, S. 369.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 1, zweiter Teil, S. 774.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 3, S. 485.
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 3, S. 287–298
- ↑ Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919, Band 3, S. 365.