Umgangsformen
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Umgangsformen sind Bestandteil sozialer Interaktion.
Eine Gesellschaft bewertet bestimmte Verhaltensformen (Manieren) negativ (z. B. als derb, roh, ungehobelt, unhöflich, ungesittet, feige) oder positiv (z. B. als gut erzogen, höflich, kultiviert, edel, tapfer) und unterscheidet „gute“ (genannt auch Guter Ton) und „schlechte“ Umgangsformen. Häufig verwendet man in der deutschen Sprache das Wort „Umgangsformen“ ohne den Zusatz „gut“ und meint gleichwohl „gute Umgangsformen“.[1]
Umgangsformen fungieren auch als identitätsstiftende Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft bzw. einer sozialen Gruppe innerhalb einer Gesellschaft.
Umgangsformen und Etikette
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Selbst Fachautoren verwenden die Wörter „Umgangsformen“ und „Etikette“ häufig bedeutungsgleich.[2] Im engen Sinne wird damit jedoch Unterschiedliches bezeichnet:
- Der Ausdruck Umgangsformen (Benehmen, Manieren) bezeichnet konkrete Verhaltensgewohnheiten: die Art und Weise, wie ein Mensch bestimmte soziale Situationen tatsächlich handhabt, z. B. ob und mit welchen Worten, welchen Gesten usw. er eine andere Person begrüßt, wenn er ihr begegnet.[3]
- Der Ausdruck Etikette dagegen bezeichnet einen (geschriebenen oder ungeschriebenen) Regelkanon, in dem Abläufe des sozialen Umgangs festgelegt sind, z. B. die Regeln, ob und mit welchen Worten und welchen Gesten eine Person eine andere zu begrüßen hat.[3]
Der Ausdruck Manieren entstammt dabei französisch la manière „Art und Weise“ (vergleiche Manier „Eigenart, Handschrift“ in der Kunst und Manier „Verzierung“ in der Musik). Zusätzlich existiert noch der bildungssprachliche, ebenfalls aus dem Französischen stammende Ausdruck Pli, der für „(Welt-)Gewandtheit, Schliff im Benehmen, Geschick, modische Eleganz“ und „feines Benehmen“ steht.[4][5]
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einer der ersten Vermittler von Bildung und Umgangsformen war Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der mit seinen Erziehungsbüchern für Fürsten (Fürstenspiegel) und seinem Benimmbuch (de civilitate) einen Leitfaden vorgab. Soziologisch ausgerichtet war auch das 1788 erstmals herausgebrachte Werk Über den Umgang mit Menschen des Freiherrn Knigge (1752–1796).
Im Gegensatz zur heutigen landläufigen Meinung handelt es sich bei dem Buch keineswegs um einen Benimmratgeber mit Ratschlägen zu Fragen der Art: „Welche Gabel darf mit welchem Messer zu welchem Essen verwendet werden?“ Erst nach Knigges Tod wurde sein Buch mehrfach von Herausgebern umgeschrieben und so immer mehr zu einer Anstandsfibel, einem modernen Knigge.
In der Wilhelminischen Zeit erschien der Ratgeber Der gute Ton des Freiherrn Otto von Berger.[6]
Im kirchlichen Zusammenhang (Gottesdienst) kann man zwischen Verhalten (Haltungen, rituelle Vollzüge) und Benehmen unterscheiden. Unangemessenes Benehmen im Gottesdienst (schlafen, essen, trinken, schwätzen, zu spät kommen, Mitbringen von Tieren, freizügige Kleidung u. a. m.) wird seit jeher immer wieder angesprochen und thematisiert (Predigten, Kirchenordnungen, Katechismus, Beichtspiegel, Bilder, Piktogramme).[7] Verschiedene Dienste waren und sind für die Einhaltung des angemessenen Verhaltens und Benehmens zuständig (Diakon, Ostiarier, Kirchenschweizer, Küster, Hundepeitscher u. a. m.[8]). Seit etlichen Jahrzehnten gibt es auch „Kirchen-Knigge“, die über angemessenes Verhalten in den Kirchen informieren.[9] Die Bandbreite schlechten Benehmens ist groß und reicht bis zu störendem Tun mit strafrechtlicher Relevanz.[10]
Umgangswerte und Umgangstugenden
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nicolai Hartmann spricht von „Werte[n] des äußeren Umgangs“[11] und von „Umgangstugenden“.[12] Auch wenn die „Umgangswerte“ nur ein „Randgebiet der ethischen Werttafel“[12] ausmachten, käme diesen ein ethischer, sittlicher relativer Wert zu: Es bedürfe überhaupt einer herrschenden Sitte, ohne die „der Mensch ins Formlose, Kulturlose“[13] versinke und ohne die „die Entfaltung des inneren Ethos“[14] behindert sei.
„Wie zufällig oder konventionell die bestehenden Verkehrsformen auch sein mögen, wie lächerlich sie dem aus fremden Kulturkreise in sie Hineingestellte erscheinen mögen, sie sind doch eine tiefe Lebensnotwendigkeit, und wer sie verletzt, versündigt sich am Mitmenschen genau so sehr wie der Ungerechte und der Lieblose.“
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Franz Ebhardt: Der gute Ton in allen Lebenslagen. Klinckhardt, Leipzig und Berlin; Manz, Wien, 10. Aufl. 1886.(Zuerst erschienen 1878, bis 1928 erschienen 22 Auflagen.) (Digitalisat der 11. Aufl. 1889)
- Otto von Berger: Der gute Ton, Buch des Anstandes und der guten Sitten, Neuausgabe der Originalausgabe (Wien 1886): Reprint Primus Verlag, Leipzig 28. Juli 2009. ISBN 3-8262-0235-X.
- Emma Kallmann: Der gute Ton. Handbuch der feinen Lebensart und guten Sitte. Nach den neuesten Anstandsregeln bearbeitet. Steinitz, Berlin 1892 (Erstausgabe). Reprint als Taschenbuch: Zenodot, Berlin 2011. ISBN 978-3-8430-6797-3.
- Asfa-Wossen Asserate: Manieren. Eichborn, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-8218-4739-5 (unter Mitwirkung von Martin Mosebach).
- Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-28258-1 (französisch: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979. Beruht auf empirischen Untersuchungen in Frankreich in den 1960er-Jahren.).
- Erich Sturtevant: Vom guten Ton im Wandel der Jahrhunderte.
- Inge Wolff: Umgangsformen. Ein moderner Knigge. Bessermann, München 2004, ISBN 3-8094-1557-X
- Urs Roeber und Uta Bernsmeier: Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten. Bremen: Focke-Museum, 2009
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Über den Umgang mit Menschen. Im Projekt Gutenberg
Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Nicht immer werden die in einem konkreten Umfeld als „gut“ angesehenen Umgangsformen dort auch tatsächlich praktiziert – oft klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
- ↑ Z.B. Helen Ann Augst: Das große Buch der Umgangsformen: Das Standardwerk des „guten Tons“ für alle Bereiche des beruflichen und privaten Lebens, Baden-Baden: Humboldt-Taschenbuch, 2004, ISBN 3-89994-891-2
- ↑ a b Maud Beetz: Der Knigge für das Bankgeschäft: Mit sozialer Kompetenz Imagewerte verbessern und Geschäftserfolge steigern, Wiesbaden: Gabler, 2009, ISBN 978-3-8349-0797-4, S. 18 (eingeschränkte Online-Version in der Google-Buchsuche-USA); Annette Zwahr (Redaktion): Meyers großes Taschenwörterbuch. Bibliographisches Institut, Mannheim 2004, ISBN 3-411-10709-X (Stichwort „Etikette“);Ursula Kraif (Redaktion): Duden – Das Fremdwörterbuch. 9. Auflage. Dudenverlag, Mannheim 2007, ISBN 978-3-411-04059-9 (Stichwort „Etikette“)
- ↑ Pli. In: Duden online. Abgerufen am 13. März 2022.
- ↑ Wolfgang Pfeifer et al.: Pli. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. 1993 (Online-Ansicht [abgerufen am 13. März 2022]).
- ↑ Otto von Berger: Der gute Ton, Buch des Anstandes und der guten Sitten, Neuausgabe der Originalausgabe (Wien 1886): Reprint Primus Verlag, Leipzig 28. Juli 2009.
- ↑ Guido Fuchs: Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2021, ISBN 978-3-7917-3246-6
- ↑ Fuchs 144–157.
- ↑ Bettine Reichelt: Der Kirchen-Knigge, Ein unterhaltsamer Ratgeber, Benno, Meißen 2009, ISBN 978-3-7462-2789-4; Christoph Peter Baumann: Der Knigge der Weltreligionen. Feste, Brauchtum und richtiges Verhalten auf einen Blick, Herder Freiburg i. Br. 2011, ISBN 978-3-451-07115-7; Ludwig Gschwind: Ministranten-Knigge, fe-medien, Kisslegg 2018, ISBN 978-3-86357-207-5.
- ↑ StGB (Deutschland) § 167 (Störung der Religionsausübung)
- ↑ Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 479
- ↑ a b Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 483
- ↑ Nicolai Hartmann: Ethik. - 3. Auflage. - Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 482
- ↑ Nicolai Hartmann, ebd.
- ↑ Nicolai Hartmann: Ethik. 3. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 1949, S. 480