Biodeutsch

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Das Schlagwort biodeutsch (auch bio-deutsch) bezeichnet seit den 1990er Jahren ethnische Deutsche.[1][2][3] Der Begriff wurde zunächst von Menschen mit Migrationshintergrund als scherzhafte Fremdbeschreibung, später auch im Sinne eines Geusenworts als (selbst-)ironische Bezeichnung von und für Menschen ohne Migrationshintergrund verwendet. Seit den 2010er Jahren verwenden auch Teile der Neuen Rechten den Begriff Biodeutsche. Als politischer Kampfbegriff behauptet er dort eine angeblich existierende gemeinsame genetisch-biologische Herkunft aller „echten“ Deutschen.[4][5]

Ironisch-satirische Bezeichnung

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Zum ersten Mal verwendete der deutsch-türkische Karikaturist Muhsin Omurca die Bezeichnung „Bio-Deutscher“ 1996 in einem Cartoon in der taz, der in seinem Comicband Kanakmän (2002) abgedruckt ist.[6][7] Darin sagt ein Mann zu seinem Nachbarn mit schwarzem Schnurrbart und Teeglas: „Der Unterschied zwischen dir und mir besteht darin, Hüsnü: Du bist ein getürkter Deutscher! Eine Fälschung! Und ich … Ich bin ein Original! Ein Bio-Deutscher“.[8] Omurca verwendet die Bezeichnung auch in seinem Text Bio-Deutscher.[9] Das Kölner Netzwerk Kanak Attak popularisierte die Bezeichnungen „bio-deutsch“ und „Bio-Deutsche“ 2002 im satirischen Kurzfilm Weißes Ghetto, in dem Passanten in Köln nach Bedeutungen der Wörter befragt werden.[10][11]

Seit den 2000er-Jahren verwendet der türkischstämmige Grünen-Politiker Cem Özdemir das Wort[8][12] – mal scherzhaft,[4] mal ernsthafter mit der Aussage, es dürfe keinen Unterschied zwischen „Biodeutschen“ und lediglich „Passdeutschen“ geben.[8] Laut der Juristin Judith Froese soll die scherzhaft-ironische Verwendung des Begriffs Bio-Deutscher das „Privileg“ Deutscher ohne Migrationshintergrund dekonstruieren, „unmarkiert“ zu sein.[13]

Politischer Kampfbegriff

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Seit den 2010er-Jahren wird das Wort im rechten Spektrum als unironische Selbstbeschreibung verwendet.[4] Laut Caroline Fetscher weicht es die mit der Staatsangehörigkeitreform 2000 erreichte rechtliche Trennschärfe zwischen Geburtsortsprinzip und Abstammungsprinzip wieder auf, da es im Kern eine „alteingesessene Bevölkerung“ postuliert. Sie weist auf die Unterscheidung von autochthon und allochthon hin.[14]

Für die Wahl zum Unwort des Jahres 2016 landeten „Biodeutscher/biodeutsch“ auf der Liste der zehn häufigsten Einsendungen, entsprachen jedoch nicht den Kriterien der Jury.[15] 2017 forderte der AfD-Politiker Ralph Weber auf Facebook, „‚Biodeutsche‘ mit zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern“ müssten sich dafür einsetzen, dass „unsere Heimat auch in 30 Jahren noch von einer deutschen Leitkultur geprägt und geformt“ werde.[16] Weber schloss mit der Parole: „Deutschland den Deutschen“. Nach Berichterstattung des Nordkuriers änderte Weber seinen Eintrag und löschte mehrere vom Nordkurier zitierte Formulierungen.[17] Weber wurde später von der AfD für die Formulierung gerügt.[18]

Die NPD verwendete eine Unterscheidung von „Biodeutschen“ und „Passdeutschen“, die im NPD-Verbotsverfahren 2017 vom Bundesverfassungsgericht zitiert wurde.[19][20]

2019 schrieb Michael Rasch, Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Frankfurt, in einem Artikel, dass „die sogenannten Bio-Deutschen, also Deutsche ohne Migrationshintergrund“ in vielen Städten nicht mehr die absolute Mehrheit der Bevölkerung stellten, was zu Verunsicherung führe. Auf Twitter benutzte er den Hashtag #biodeutsche. Nach Protesten löschte die NZZ den Begriff aus dem Artikel.[8]

Weitere Varianten der Verwendung

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Der iranischstämmige Grünen-Politiker Omid Nouripour verwendet die Bezeichnung in seinem Buch Kleines Lexikon für MiMiMis und Bio-Deutsche (2014) scherzhaft. Als Gegenteil definiert er „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ („MiMiMi“). Der SPD-Politiker und ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky benutzt das Wort „biodeutsch“ in seinem Buch Die andere Gesellschaft (2014) in Anführungszeichen, um Menschen ohne Migrationshintergrund zu kennzeichnen. Der marokkanischstämmige Journalist Mohamed Amjahid verwendet die Bezeichnung Biodeutsche in seinem Buch Unter Weißen (2017) durchgängig und ohne Anführungszeichen, um Menschen ohne Migrationshintergrund ihre Privilegien zu veranschaulichen, ebenso der im Iran geborene Autor Michel Abdollahi in seinem Buch Deutschland schafft mich (2020).[21] Der syrischstämmige Soziologe Aladin El-Mafaalani kritisiert das Wort, das er vor allem in der migrantischen Jugend- und Kulturszene verortet, in seinem Buch Das Integrationsparadox (2018) und verwendet es in Anführungszeichen. Problematisch sei das Wort auch dann, wenn „bio“ statt von „biologisch“ von „biografisch“ hergeleitet würde.[22] Teils ist auch die Rede von „herkunftsdeutsch“.[23] Der englische Ausdruck „white passing“ wurde mit „als biodeutsch durchgehend“ übersetzt.[24][25]

Das Wort wurde 2017 in den Duden aufgenommen[26] und erreichte 2020 eine Häufigkeitsklasse HK19.[27] Eine korpuslinguistische Studie ermittelte 2021, dass das Wort „biodeutsch“ in vier verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Im untersuchten Korpus aus 299 seit 2014 erschienenen Texten haben die Verwendungsweisen folgende Häufigkeit: für eine privilegierte Gruppe (65,6 %), die Gültigkeit in Frage stellend (11,7 %), als umgekehrte Diskriminierung (2 %), als soziale Kategorie (20,7 %).[28]

  • Janet M. Fuller: “Organically German”? Changing ideologies of national belonging. In: Hans van de Velde, Nanna Haug Hilton, Remco Knooihuizen (Hrsg.): Language Variation – European Perspectives VIII: Selected papers from the Tenth International Conference on Language Variation in Europe (ICLaVE 10), Leeuwarden, Juni 2019. John Benjamins Publishers, Amsterdam / Philadelphia 2021, S. 112–134 jbe-platform.com (PDF; 18 MB).

Einzelnachweise

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  1. Özkan Ezli, Gisela Staupe: Das Neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt. Konstanz University Press, Konstanz 2014, ISBN 978-3-86253-032-8.
  2. Uwe Buse: Migrationsforscher über demografischen Wandel: „Die ‚ethnischen Deutschen‘ werden zu einer Minderheit neben anderen“. Spiegel Online, 2. Juli 2019; abgerufen am 27. April 2021.
  3. Marcel Leubecher: Bevölkerungsentwicklung: Musliminnen bekommen deutlich mehr Kinder. Welt Online, 25. Juli 2019; abgerufen am 27. April 2021.
  4. a b c Fabian Goldmann: Ist biodeutsch nur ein anderes Wort für Arier? Was hinter dem neuen Wort steckt. In: Spiegel Online. 6. Juni 2017, abgerufen am 30. April 2021.
  5. Kurt Möller: KanakCultures: Kultur und Kreativität junger MigrantInnen. Hrsg. Projektgruppe JugendArt. Hirnkost, 2010, ISBN 978-3-940213-54-9.
  6. Muhsin Omurca: Kanakmän. „tags Deutscher, nachts Türke“. Omu-Verlag, Ulm 2002, ISBN 3-00-009564-0, S. 37
  7. Graeme Dunphy, R. Graeme Dunphy, Rainer Emig: Hybrid Humour: Comedy in Transcultural Perspectives. Rodopi, 2010, ISBN 978-90-420-2823-4, S. 155 (google.de).
  8. a b c d Alexandra Kedves: Biodeutsch. In: Tages-Anzeiger. 7. Dezember 2019 (tagesanzeiger.ch [abgerufen am 16. März 2020]).
  9. Theresa Specht: Transkultureller Humor in der türkisch-deutschen Literatur. Königshausen & Neumann, 2011, ISBN 978-3-8260-4666-7, S. 176 (google.de).
  10. Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration. transcript Verlag, 2015, S. 67.
  11. Nora Haakh: Muslimisierte Körper auf der Bühne: Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater. transcript Verlag, 2021, ISBN 978-3-8394-3007-1, S. 15, Fußnote 9 (google.de – Der Begriff »biodeutsch« taucht z. B. in Arbeiten der Medienaktivist_innen von Kanak Attack auf […].).
  12. Ferda Ataman: Türkisch für Fortgeschrittene. In: tagesspiegel.de. 16. April 2009, abgerufen am 17. März 2020.
  13. Judith Froese: Der Mensch in der Wirklichkeit des Rechts: Zur normativen Erfassung des Individuums durch Kategorien und Gruppen. Mohr Siebeck, 2022, ISBN 978-3-16-161027-1, S. 265 (google.de).
  14. Caroline Fetscher: Migration der Sprache: „Biodeutsch“ – Sprache unterwandert Kultur, Der Tagesspiegel, 7. Mai 2015, abgerufen am 27. April 2021.
  15. Technische Universität Darmstadt: „Volksverräter“ ist das Unwort des Jahres 2016. 10. Januar 2017, abgerufen am 17. März 2020.
  16. Andre Meister, Anna Biselli, Markus Reuter: Wir veröffentlichen das Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD. In: netzpolitik.org. 28. Januar 2019, abgerufen am 17. März 2020.
  17. AfD-Professor Weber: Uni distanziert sich von „Biodeutsche“-Äußerung. In: Nordkurier.de. 26. April 2017, abgerufen am 16. März 2020.
  18. Frank Pergande: Mecklenburg-Vorpommern: AfD mahnt Abgeordneten ab. In: FAZ.net. Abgerufen am 16. März 2020.
  19. Mathias Hong: Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte. Grundfragen, Entstehung und Rechtsprechung. Mohr Siebeck, 2019, ISBN 978-3-16-156926-5, S. 455 (google.de [abgerufen am 6. Mai 2021] vgl. zur Unterscheidung in dem politischen Konzept der NPD zwischen „Biodeutschen“ und „Passdeutschen“: BVerfG 144, 20 (Rn. 694) – NPD (2017). Fußnote 243.).
  20. BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren
  21. Michel Abdollahi: Deutschland schafft mich: Als ich erfuhr, dass ich doch kein Deutscher bin. Hoffmann und Campe Verlag GmbH, 2020, ISBN 978-3-455-00894-4 (google.de).
  22. Aladin El-Mafaalani: Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Kiepenheuer & Witsch eBook, 2018, ISBN 978-3-462-31869-2 (google.de).
  23. Carolin Küppers: Refugees & Queers. Forschung und Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ, Fluchtmigration und Emanzipationspolitiken. In: Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hrsg.): QueerStudies. Band 17, 2019, S. 112 (google.de).
  24. White Passing (UA), von Sarah Kilter - 17.04.2022, 20:00 – 21:30. Schauspiel Leipzig, abgerufen am 28. März 2022.
  25. Katrin Pauly: Flucht zu Bushido: „White Passing“ in der Vaganten Bühne. 13. März 2022, abgerufen am 28. März 2022.
  26. Tamilla Mammadova: Cultural Diversity in Cross-Cultural Settings: A Global Approach. Cambridge Scholars Publishing, 2021, ISBN 978-1-5275-7496-0, S. 12 (google.de).
  27. Wort: biodeutsch Anzahl: 44 Rang: 357,342 Häufigkeitsklasse: 19. corpora.uni-leipzig.de; abgerufen am 16. März 2020.
  28. Fuller 2021, S. 121