Nefesch

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Nefesch (hebräisch נֶפֶשׁ næfæš, fem.) ist ein für die Hebräische Bibel zentraler Begriff, der in der deutschen Sprache keine Entsprechung hat. Traditionell, aber irreführend, wird er mit „Seele“ übersetzt. Ungefähr lässt sich die Nefesch als „die Vitalität, die sprudelnde Lebensenergie, die Leidenschaftlichkeit“ umschreiben.[1]

Andere semitische Sprachen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Akkadisch napištu bedeutet sowohl „Kehle“ als auch „Leben“, arabisch nafs „Seele, Leben, Person“ und, reflexiv gebraucht, „sich selbst.“ In mehreren verwandten Sprachen bezeichnet ein mit hebräisch נֶפֶשׁ næfæš verwandtes Wort ein Grabmonument, so phönizisch-punisch nbš „Grabmal“ und npš sowie nabatäisch-palmyrenisch npš „Grabmal, Totenstele.“[2]

In der ugaritischen Sprache hat das Lexem npš folgende Bedeutungen: 1. Kehle, Schlund; 2. Appetit, Sehnen; 3. Atem, Kraft; 4. Lebensgeist; 5. Bevölkerung; 6. inneres Organ oder Organe.[3] Vieles davon begegnet im Bibelhebräischen wieder.

Nefesch als Kehle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nefesch bezeichnet die menschliche Kehle (zum Beispiel hebräisch נַפְשֵׁ֥נוּ יְבֵשָׁ֖ה nafšenû jəvešāh „unsere Kehle ist trocken“, Num 11,6 EU). Diese Grundbedeutung klingt immer mit. Luft- und Speiseröhre wurden nicht unterschieden. Wie andere Körperorgane auch hat die Kehle im Bibelhebräischen als quasi-selbständiges „Aktivitätszentrum“ Funktionen, die nach modernem Verständnis der ganzen Person zuzuordnen sind:[4]

  • als nach Luft schnappende, redende oder jubelnde Kehle;
  • als begieriger, Nahrung verschlingender Rachen.

„Kurz: Was in den Menschen hineingeht und was aus ihm herauskommt …, konzentriert sich im Engpaß der Gurgel. Die näfäsch wird zum Symbol des bedürftigen, begehrenden Menschen.“[5] Der Nefesch zugeordnet ist Appetit, Hunger und Durst, aber auch der Überlebens- oder der Sexualtrieb.[6]

Nefesch als vitales Selbst[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nefesch ist „das, was Menschen u[nd] Tiere z[u] Lebewesen macht;“ ihr Sitz ist im Blut.[7] Hebräisch kennt ebenso wie Akkadisch die Formulierung „die Nefesch ausgießen“; das bedeutet: ein Lebewesen töten.[8] In juristischen Texten kann Nefesch allgemein für ein lebendes Individuum, Mensch und Tier, stehen, und für das Leben, das bei bestimmten Verfehlungen verwirkt ist.

Kein Leib-Seele-Dualismus[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Unterschied zwischen dem hebräischen Konzept der Nefesch und dessen Rezeptionsgeschichte im Christentum lässt sich an der Menschenschöpfung (Gen 2,7 EU) verdeutlichen. Der Mensch, die „lebendige Nefesch“, entsteht als Ergebnis zweier Schöpfungsakte, so Bernd Janowski:

  • Formung aus Erde;
  • Belebung durch den Lebensatem (nišmat ḥajjim).

Die Nefesch ist also nicht etwas Geistiges, was zum materiellen Körper hinzukommt und diesen beseelt, bis sie ihn beim Tod verlässt. Emotionale und geistige Lebendigkeit sind mit der Nefesch verbunden, aber die Nefesch ist „weder der Hauptsitz des Bewusstseins noch repräsentiert sie den Menschen nach seinem Tod.“[9]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wilhelm Gesenius: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Hrsg.: Herbert Donner. 18. Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg 2013, S. 833–836. ISBN 978-3-642-25680-6.
  • Horst Seebass: Art. næpæš. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT) Band 5, S. 531–555.
  • Martin Rösel: Die Geburt der Seele in der Übersetzung: von der hebräischen näfäsch über die psyche der LXX zur deutschen Seele. In: Andreas Wagner (Hrsg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Band 232). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, S. 151–170. ISBN 978-3-525-53189-1.
  • Silvia Schroer, Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel. Primus, Darmstadt 1998. ISBN 3-89678-081-6.
  • Bernd Janowski: Der Mensch im alten Israel: Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie: W. H. Schmidt zum 70. Geburtstag. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102/2 (2005), S. 143–175.
  • Bernd Janowski: Die lebendige næpæš. Das Alte Testament und die Frage nach der „Seele“. In: Gregor Etzelmüller, Annette Weissenrieder (Hrsg.): Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie. De Gruyter, Berlin / München / Boston 2016, S. 51–94. (abgerufen über De Gruyter Online)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Horst Seebass: næpæš, S. 544, hier zitiert nach: Bernd Janowski: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder. Mohr Siebeck, Tübingen 2019, S. 54.
  2. Gesenius. 18. Aufl. 2013, S. 833f.
  3. Gregorio del Olmo Lete, Joaquín Sanmartín: A Dictionary of the Ugaritic Language in the Alphabetic Tradition. Brill, Leiden 2015, S. 627.
  4. Bernd Janowski: Der Mensch im alten Israel: Grundfragen alttestamentlicher Anthropologie, 2005, S. 157.
  5. Silvia Schroer, Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, S. 62.
  6. Silvia Schroer, Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, S. 66.
  7. Gesenius. 18. Aufl. 2013, S. 834. Vgl. Gen 9,4–5 EU und Lev 17,11 EU.
  8. Gesenius. 18. Aufl. 2013, S. 834.
  9. Bernd Janowski: Die lebendige næpæš. Das Alte Testament und die Frage nach der „Seele“, Berlin / München / Boston 2016, S. 55–57 und 63, Zitat S. 63.