Prinzip der materiellen Objektivität

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Das Prinzip der materiellen Objektivität postuliert in der Materialtheorie, dass jede Darstellung materieller Eigenschaften unabhängig vom Bezugssystem des Beobachters und seiner Bewegungen sein sollte.[1]:277f[2] Beobachter, die sich unterschiedlich bewegen, müssen aus einer Materialgleichung auf ein und denselben Spannungszustand schließen können.[3] Statt von einem Prinzip wird auch von einem Axiom gesprochen.[2]

Mögliche Umschreibungen sind:

  • Das Materialverhalten erlaubt keinerlei Rückschlüsse zu ziehen darauf, in welchem Bezugssystem es beobachtet wurde.[1]:289
  • Materialeigenschaften sind invariant gegenüber überlagerten Starrkörper­bewegungen.[1]:292
  • Die Materialeigenschaften beschreibenden Gleichungen (kurz Konstitutiv­gleichungen) sind invariant gegenüber einem Wechsel des Bezugssystems.

Es ist eines der grundlegenden Prinzipien in der Materialtheorie, die Methoden der mathematischen Modellierung des Materialverhaltens und der Verbindung von Konstitutiv­gleichungen mit den physikalischen Gesetzen entwickelt.[2] Dieses Prinzip schränkt die mathematische Form der konstitutiven Gleichungen ein[1]:277 und gibt so einen groben Rahmen vor, wie Materialmodelle formuliert werden müssen.[1]:292

Die formale Unabhängigkeit der konstitutiven Gleichungen vom Bezugssystem ist zweifelsohne zwingend erforderlich; dass aber – wie vom Prinzip gefordert – Materialmodelle auch unabhängig von der Translations- oder Rotationsgeschwindigkeit des Bezugssystems sein sollten, kann nicht unbedingt als zwingendes Naturgesetz angesehen werden.[1]:278 In seiner heutigen Form wurde es von C. A. Truesdell und W. Noll 1965 formuliert und seine lange Vorgeschichte von Robert Hooke bis ins 20. Jahrhundert wird ausführlich im Handbuch der Physik wiedergegeben.[4]

Andere Bezeichnungen für dieses Prinzip sind Prinzip der Beobachterindifferenz und Prinzip von der materiellen Bezugssysteminvarianz (englisch material frame-indifference).[4]

Motivation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zwei verschiedene Körper mit denselben Abmessungen und Massenverteilungen können unterschiedlich auf dieselben äußeren Kräfte reagieren, wenn sie aus verschiedenem Material bestehen. Ein Würfel aus Wasser und aus Holz mögen etwa die gleiche Dichte und Masse besitzen, verhalten sich jedoch völlig anders, wenn sie auf den Boden fallen. Nun entspricht es nicht der Erfahrung, dass diese Beobachtung davon abhängt, ob man die Würfel in relativer Ruhe, Bewegung oder Drehung zu den Würfeln beobachtet. Genau diese Erfahrung bringt das Prinzip der materiellen Objektivität zum Ausdruck.

Mathematische Formulierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sobald ein Inertialsystem bekannt ist, können die Gleichgewichtsbedingungen auf jedes Bezugssystem angewendet werden, das kein Inertialsystem ist. Dazu ist es jedoch zwingend erforderlich zu wissen, wie sich die Größen, die in den Gleichgewichts­gleichungen auftreten, verändern, wenn der Bezugsrahmen geändert wird. In diesem Zusammenhang wird ein bestimmtes Transformations­verhalten mit dem Begriff Objektivität bezeichnet.[1]:156 Das Prinzip der materiellen Objektivität postuliert entsprechend, dass in der mathematischen Formulierung des Materialverhaltens nur objektive Größen aufgenommen werden sollen.

Beispielsweise wird die Bewegung eines Massenpunkts mathematisch durch seine Masse und seine Trajektorie oder Bahnlinie beschrieben, die maßgeblich durch die Kräfte bestimmt wird, die auf ihn wirken. Die Beobachtung eines ausgedehnten, deformierbaren physikalischen Körpers wird analog durch seine Massen­verteilung und die Bewegungsfunktion χ(P,t) jedes einzelnen materiellen Punktes, kurz Partikels P des Körpers als Funktion der Zeit t beschrieben. Die auf den Körper einwirkenden Kräfte induzieren in ihm ein Spannungstensor­feld σ, das die Bewegung der einzelnen Partikel und damit auch die Verformungen des Körpers bestimmt. Die Entsprechungen zwischen Massenpunkt und Partikel eines Kontinuums fasst die Tabelle zusammen

Objekt Bewegungs­funktion Trägheits­eigenschaft Äußere Einwirkung
Massenpunkt M x(t) Masse m Kraft F
Partikel P χ(P,t) Dichte ρ Spannungstensor σ

Wenn eine konstitutive Gleichung erfüllt ist für eine Bewegungs­funktion und ein symmetrisches Spannungs­tensorfeld σ(P,t), dann muss sie ebenso erfüllt werden durch die euklidisch transformierten Größen[4]

wo

eine beliebige Translation,
Q(t) eine beliebige orthogonale Tensorfunktion der Zeit, und
a ein beliebiger Zeitpunkt ist.

Prinzipien der Materialtheorie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben dem Prinzip der materiellen Objektivität sind weitere Prinzipien formuliert worden, die die Konstruktion von Materialmodellen dahingehend unterstützen, dass vernünftige physikalische Probleme auch physikalisch vernünftige Lösungen haben. Eine vollständige, allgemeingültige und präzise Feststellung aller notwendigen Prinzipien ist allerdings auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht gegeben.[4][1]:278 Einige weitere Prinzipien sind in der folgenden Tabelle aufgelistet.[2]

Name Bedeutung
Kausalitätsprinzip Die Auswahl der abhängigen und der unabhängigen Variablen wird aus Überlegungen zu Ursache und Wirkung bestimmt.
Prinzip der Determiniertheit Der aktuelle Zustand des Kontinuums wird durch die aktuelle Beanspruchung sowie die gesamte Vorgeschichte bestimmt.
Prinzip der Äquipräsenz Der Satz der unabhängigen Variablen, der in eine Konstitutivgleichung eingeht, muss auch in allen übrigen Konstitutivgleichungen für das gegebene Kontinuumsmodell enthalten sein.
Axiom der lokalen Wirkung Der Zustand in den materiellen Punkten wird einzig durch die unmittelbare Umgebung des materiellen Punktes beeinflusst; Fernwirkungen werden entsprechend vernachlässigt.
Gedächtnisaxiom Ein Material hat ein „Gedächtnis“ und reflektiert somit zurückliegende Ereignisse unterschiedlich.
Axiom der physikalischen Konsistenz Konstitutivgleichungen dürfen nicht physikalischen Gesetzen widersprechen (Prinzip der physikalischen Verträglichkeit).

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h P. Haupt: Continuum Mechanics and Theory of Materials. Springer, 2002, ISBN 978-3-642-07718-0, doi:10.1007/978-3-662-04775-0.
  2. a b c d Holm Altenbach: Kontinuumsmechanik. Einführung in die materialunabhängigen und materialabhängigen Gleichungen. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 2012, ISBN 978-3-642-24118-5, S. 218 ff., doi:10.1007/978-3-642-24119-2.
  3. J. Betten: Kontinuumsmechanik. Elastisches und inelastisches Verhalten isotroper und anisotroper Stoffe. 2. erw. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg u. a. 2001, ISBN 978-3-642-62645-6, S. 89, doi:10.1007/978-3-642-56562-5.
  4. a b c d C. Truesdell: Die Nicht-Linearen Feldtheorien der Mechanik. In: S. Flügge (Hrsg.): Handbuch der Physik. Band III/3. Springer, 1965, ISBN 978-3-642-46017-3, S. 44 ff., doi:10.1007/978-3-642-46015-9 (englisch, springer.com – Originaltitel: The Non-Linear Field Theories of Mechanics.).