Dieser Artikel behandelt den Zahlbereich der Mathematik. Zu weiteren Bedeutungen siehe Quaternion (Begriffsklärung).
ℍ
Die Quaternionen (Singular das oder die Quaternion, von lateinischquaternio, -ionisf. „Vierheit“) sind ein Zahlenbereich, der den Zahlenbereich der reellen Zahlen erweitert – ähnlich den komplexen Zahlen und über diese hinaus. Beschrieben (und systematisch fortentwickelt) wurden sie ab 1843 von William Rowan Hamilton;[1] sie werden deshalb auch hamiltonsche Quaternionen oder Hamilton-Zahlen genannt. Olinde Rodrigues entdeckte sie bereits 1840 unabhängig von Hamilton.[2] Trotzdem wird die Menge der Quaternionen meistens mit bezeichnet.
Die Quaternionen bilden einen Schiefkörper (oder Divisionsring), bei dem die Multiplikation auch von der Reihenfolge der Faktoren abhängt, also nichtkommutativ ist. Das heißt, es gibt Quaternionen und , bei denen
Quaternionen erlauben in vielen Fällen eine rechnerisch elegante Beschreibung des dreidimensionalen euklidischen Raumes und anderer Räume, insbesondere im Kontext von Drehungen. Daher verwendet man sie unter anderem in Berechnungs- und Darstellungsalgorithmen für Simulationen sowie zur Auswertung kristallographischer Texturen.[4] Sie sind aber auch als eigenständiges mathematisches Objekt von Interesse und dienen so zum Beispiel im Beweis des Vier-Quadrate-Satzes.
Die Quaternionen entstehen aus den reellen Zahlen durch Hinzufügen (Adjunktion) dreier neuer Zahlen, denen in Anlehnung an die komplex-imaginäre Einheit die Namen , und gegeben werden. So ergibt sich ein vierdimensionales Zahlensystem (mathematisch ein Vektorraum) mit einem Realteil, der aus einer reellen Komponente besteht, und einem Imaginärteil aus drei Komponenten, der auch Vektorteil genannt wird.
Alle Quaternionen lassen sich eindeutig in der Form
mit reellen Zahlen , , , schreiben. Damit bilden die Elemente eine Basis, die Standardbasis der Quaternionen über . Die Addition ist komponentenweise und wird vom Vektorraum geerbt. Multiplikativ werden die neuen Zahlen , , gemäß den Hamilton-Regeln
verknüpft. Die Skalarmultiplikation, die ebenfalls vom Vektorraum geerbt wird[5] und bei der die Skalare als mit jedem Element vertauschbar angesehen werden, zusammen mit der Addition, dem Rechtsdistributivgesetz und den Hamilton-Regeln erlauben es, die Multiplikation von der Basis auf alle Quaternionen zu erweitern. Da so auch jeder Skalar als in eingebettet wird, kann als Unterring von aufgefasst werden.
Die so definierte Multiplikation ist assoziativ, erfüllt die beiden Distributivgesetze[6] und macht so die Quaternionen zu einem Ring. Sie ist allerdings nicht kommutativ, d. h., für zwei Quaternionen und sind die beiden Produkte und im Allgemeinen verschieden (s. u.). Das Zentrum von , also die Menge derjenigen Elemente der multiplikativen Gruppe von , die mit allen Elementen kommutieren, ist .
Im weiteren Text werden folgende Schreibweisen benutzt:
Ist eine Quaternion, dann werden ihre reellen Komponenten mit bezeichnet, und diese sind der Basis folgendermaßen zugeordnet:
Gelegentlich wird eine vektorielle Schreibweise benötigt. Dabei werden bspw. die Komponenten zu einem 3-dimensionalen Vektor zusammengefasst, so dass man mit dem 4-dimensionalen Vektor identifizieren kann.[7]
Analoge Abmachungen sollen für andere Buchstaben wie etc. gelten.
In mancher älteren Literatur wurden Quaternionen mit großen Frakturbuchstaben und die imaginären Einheiten als Einheitsvektoren mit kleinen in Fraktur bezeichnet, z. B. so:
mit .
Komplexe Zahlen tragen meist den Namen und haben die reellen Komponenten , .
Die Konstruktion der Quaternionen ist der der komplexen Zahlen analog, allerdings wird nicht nur eine neue Zahl hinzugefügt, sondern derer drei, die mit , und bezeichnet werden.
über der Basis spannen mit reellen Komponenten den 4-dimensionalen Vektorraum der Quaternionen auf. Als Vektorraum ist isomorph zu . Das Basiselement , das die reellen Zahlen injektiv einbettet (und zugleich das neutrale Element der Multiplikation darstellt), wird in der Linearkombination meist weggelassen. Die Addition und Subtraktion geschieht komponentenweise.
Vom Vektorraum wird auch die Skalarmultiplikation übernommen, also die linke und rechte Multiplikation mit einer reellen Zahl, die distributiv zu jeder Komponente multipliziert wird. Diese Skalarmultiplikation ist eine Einschränkung der Hamilton-Multiplikation, die auf ganz definiert ist. Die Hamilton-Multiplikation der Basiselemente untereinander oder etwas umfassender innerhalb der Menge
geschieht nach den Hamilton-Regeln
.
Diese Regeln zusammen mit der Vertauschbarkeit von mit jedem anderen Element geben eine vollständige Tafel für eine Verknüpfung vor, die sich als assoziativ erweist und zu einer Gruppe macht – der Quaternionengruppe.
Unter Voraussetzung der Regel (und der Gruppenaxiome) ist die Kombination aus und , in der das zyklische und antizyklische Verhalten der drei nicht-reellen Quaternionen-Einheiten zum Ausdruck kommt, ersetzbar durch die Einzelregel
.
Diese Einzelregel könnte auch durch jede der fünf alternativen Einzelregeln , , , oder ersetzt werden.
Mithilfe dieser Ersetzungsregeln, des Assoziativgesetzes und (linken sowie rechten) Distributivgesetzes lässt sich die Multiplikation auf ganz fortsetzen. Die kann man wie anti-kommutierende Variablen behandeln. Treten Produkte von zweien von ihnen auf, so darf man sie nach den Hamilton-Regeln ersetzen.
Die ausgearbeiteten Formeln für die zwei Verknüpfungen von zwei Quaternionen
Damit sind die für einen Ring erforderlichen zwei Verknüpfungen definiert. Es ist leicht nachgerechnet, dass alle Ring-Axiome erfüllt sind.
Das additive Inverse ist (wie in jedem Vektorraum) das Produkt mit dem Skalar −1. Die Subtraktion ist die Addition dieses Inversen.
Die für einen Schiefkörper erforderliche Division muss wegen der fehlenden Kommutativität durch eine Multiplikation mit dem (multiplikativen) Inversen ersetzt werden (siehe Inverses und Division).[9]
Ist ein Ring, dann wird der mit der Multiplikation
ausgestattete Ring als Gegenring bezeichnet. Hier folgen alle Ringgesetze, das heißt das Assoziativgesetz sowie beide Distributivgesetze, aus den ursprünglichen Gesetzen. Im Gegenring , der wegen der Nicht-Kommutativität von von diesem verschieden ist, gelten alle im Abschnitt Grundrechenarten angeführten Rechenregeln bis auf die Multiplikation, bei der die Vorzeichen der Terme, die nur Koeffizienten mit und haben, invertiert sind. Ferner gilt die Kurzform
.
Im Übrigen hat Gauß laut Lam:Eq. (1.4) die Quaternionenmultiplikation im Jahr 1819 genau so definiert.
Die Nichtkommutativität ist gleichbedeutend mit der Verschiedenheit von und . Da beide Ringe die Ringaxiome der Quaternionen erfüllen, muss dieses Axiomensystem „unvollständig“ sein im Sinne Hölders. In diesem Sinn vollständig sind die Axiomensysteme der rationalen, reellen oder komplexen Zahlen.
Da hier der Imaginärteil mit seinen Einheitsvektoren verknüpft bleibt und der Realteil als reelle Zahl eindeutig in die Quaternionen einzubetten ist, ergeben sich die einfachen Beziehungen
Ist eine Quaternion gleich ihrer Konjugierten, so ist sie reell, d. h., der Vektorteil ist null. Ist eine Quaternion gleich dem Negativen ihrer Konjugierten, so ist sie eine reine Quaternion, d. h., der Skalarteil ist null.
Weitere wichtige Eigenschaften der Konjugation sind:
Ferner kann man damit die einzelnen Komponenten einer Quaternion isolieren:
.
Das aus der Physik weit verbreitete Vorgehen, das Skalarprodukt abkürzend wie eine Multiplikation mit dem Mittepunkt„“ zu notieren, wird auch bei den Quaternionen häufig angewandt, wobei hier die Verwechslungsgefahr zwischen Quaternionenmultiplikation und Skalarprodukt hoch ist.
Im Folgenden verwenden wir folgende Konvention:
Das Quaternionenprodukt wird stets ohne Benutzung des Mittepunkts durch Aneinanderreihung der Faktoren notiert.
Das Skalarprodukt, und zwar sowohl das 4- wie das 3-dimensionale, wird in Multiplikationsschreibweise mit dem Mittepunkt „“ notiert.
so lässt sich die Multiplikation mithilfe des (dreidimensionalen) Skalarprodukts und Kreuzprodukts beschreiben:
.
Zwei Quaternionen sind demnach genau dann miteinander vertauschbar, wenn ihr Kreuzprodukt 0 ist, wenn also ihre Vektorteile als reelle Vektoren linear abhängig sind (s. a. Einbettung der komplexen Zahlen).
Bei einer nicht-kommutativen Multiplikation muss man die Gleichungen
und
unterscheiden. Wenn das Inverse existiert, dann sind
bzw.
respektive Lösungen, die nur dann übereinstimmen, wenn und kommutieren, insbesondere wenn der Divisor reell ist. In solch einem Fall kann die Schreibweise verwendet werden – bei allgemeinen Divisionen wäre sie nicht eindeutig.
Wenn zusätzlich existiert, gilt die Formel
,
denn
und .
Für
ist die Norm
reell und positiv. Die Quaternion
erfüllt dann die Bedingungen des Rechts-
und des Links-Inversen
und kann deshalb als das Inverse schlechthin von bezeichnet werden.
Eine Quaternion, deren Vektorteil 0 ist, wird mit der ihrem Skalarteil entsprechenden reellen Zahl identifiziert.
Eine Quaternion, deren Realteil 0 ist (äquivalent, deren Quadrat reell und nichtpositiv ist), nennt man rein, rein imaginär oder vektoriell. Die Menge der reinen Quaternionen wird als oder notiert. Sie ist ein dreidimensionaler reeller Vektorraum mit Basis . Für reine Quaternionen nimmt die Multiplikation eine besonders einfache Form an:
Eine Einheitsquaternion (auch normierte Quaternion, Quaternion der Länge 1) ist eine Quaternion, deren Betrag gleich 1 ist. Für sie gilt (analog zu den komplexen Zahlen)
.
Für eine beliebige Quaternion ist
eine Einheitsquaternion, die man manchmal auch als das Signum oder den Versor von bezeichnet.
Das Produkt zweier Einheitsquaternionen und die Inverse einer Einheitsquaternion sind wieder Einheitsquaternionen. Die Einheitsquaternionen bilden also eine Gruppe.
Jede Quaternion mit Quadrat definiert einen Einbettungsisomorphismus der komplexen Zahlen in die Quaternionen
mit und als imaginärer Einheit der komplexen Zahlen. Dabei sind die Bildmengen der und entsprechenden Einbettungen identisch: .
Eine jede solche Quaternion darf genannt werden, eine senkrechte dazu und ihr Produkt .[14]:Seite 40.[15] Jede nicht-reelle Quaternion liegt in genau einer solchen Einbettung von . Zwei Quaternionen sind genau dann vertauschbar, wenn es eine gemeinsame Einbettung gibt.
Zwei verschiedene Bilder haben die reelle Achse zum Durchschnitt.
So betrachtet, sind die Quaternionen eine Vereinigung komplexer Ebenen.
mit der reinen Quaternion. Will man also eine reine Quaternion exponentiieren, so ist ihr Betrag und die reine Einheitsquaternion zu bilden, und es ergibt sich die Einheitsquaternion
Da als eine Vereinigung von Einbettungen komplexer Ebenen aufgefasst werden kann (s. Abschnitt #Einbettung der komplexen Zahlen), kann man versuchen, Funktionen [20] mithilfe der genannten Einbettungsisomorphismen vom Komplexen ins Quaternionische zu liften. Dabei ist zu fordern, dass die so gewonnenen Funktionen mit bei Überschneidungen der Definitionsbereiche dasselbe Ergebnis liefern, so dass die vereinigte Funktion auf der Vereinigungsmenge vermöge als in wohldefinierter Weise gebildet werden kann.
Sei eine komplexwertige Funktion einer komplexen Variablen mit reellen und reellen Einbettbarkeit: ist genau dann einbettbar in die Quaternionen, wenn eine gerade und eine ungerade Funktion des jeweils zweiten Arguments ist.
Beweis
Ist eine beliebige nicht-reelle Quaternion, dann ist eine reine und normierte Quaternion mit . Seien ferner und , die beide reell sind. Sowohl wie ist ein Einbettungsisomorphismus für das Bild . Im ersteren Fall ist das Urbild von , im zweiten Fall haben wir wegen das Urbild ; jeweils mit als der imaginären Einheit von . Die Urbilder sind verschieden, das Bild, das bei der zu bildenden Funktion als Argument fungieren soll, ist aber beidesmal . Das „Liften“ wird durch die Einbettung der Funktionswerte als
und
vervollständigt (s. Diagramm). Nun ist nach Voraussetzung
so dass sich
ergibt und nicht von der Wahl des Einbettungsisomorphismus abhängt.
Die Bedingung ist auch notwendig. Denn lässt umgekehrt die Funktion eine Einbettung in die Quaternionen zu, so gibt es zu jedem eine geeignete reine Einheitsquaternion und reelle mit und
Bei der konjugierten Quaternion hat die Einbettung dasselbe Bild wie und also dieselbe Definitionsmenge wie . Der Funktionswert
muss also mit dem vorigen für alle übereinstimmen. ■
Die eingebettete Funktion stimmt auf allen Teilmengen mit überein, kann also als Fortsetzung von angesehen werden und, wenn Verwechslungen nicht zu befürchten sind, wird auch der Funktionsname beibehalten.
Ist eine einbettbare Funktion, so ist wegen der Ungeradheit von in der zweiten Variablen, also und für . Somit folgt aus der Einbettbarkeit, dass die Einschränkung aufs Reelle reell ist.[21] Zu dieser Klasse von komplexen Funktionen gehören Norm und Betrag, aber auch alle Laurent-Reihen mit reellen Koeffizienten , so die Exponential- und Logarithmusfunktion.[22]
Schwieriger ist es, eine allgemeine quaternionische Analysis mit Differential- und/oder Integralrechnung aufzustellen. Ein Problem springt unmittelbar ins Auge: der Begriff des Differenzenquotienten, der in der reellen wie der komplexen Analysis so erfolgreich ist, muss wegen der Nicht-Kommutativität als linke und rechte Version definiert werden. Legt man dann genauso strenge Maßstäbe wie bei der komplexen Differenzierbarkeit an, dann stellt sich heraus, dass bestenfalls lineare Funktionen, und zwar links und rechts, differenzierbar sind.[23] Immer definieren lässt sich aber eine Richtungsableitung und das Gâteaux-Differential.
Im Folgenden werden Vektoren im dreidimensionalen Raum mit reinen Quaternionen , also die üblichen -Koordinaten mit den -Komponenten identifiziert. Definiert man den Nabla-Operator (wie Hamilton) als
und wendet ihn auf eine skalare Funktion als (formale) Skalarmultiplikation an, erhält man den Gradienten
Einheitsquaternionen können für eine elegante Beschreibung von Drehungen im dreidimensionalen Raum verwendet werden: Für eine feste Einheitsquaternion ist die Abbildung
bzw.
auf eine Drehung. (Hier, wie im Folgenden, ist nur von Drehungen die Rede, die den Ursprung festlassen, d. h., deren Drehachse durch den Ursprung verläuft.)
Die Polardarstellung stellt die Einheitsquaternion durch einen Winkel und eine reine Einheitsquaternion eindeutig dar als
.
Dann ist eine Drehung des um die Achse mit Drehwinkel .
Für jede Einheitsquaternion definieren und dieselbe Drehung; insbesondere entsprechen und