Richard A. Gardner

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Richard Alan Gardner (* 28. April 1931 in Bronx, New York City; † 25. Mai 2003 in Tenafly, New Jersey)[1] war ein US-amerikanischer Kinderpsychiater.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gardner studierte Medizin und Psychiatrie an verschiedenen Universitäten in New York mit dem Abschluss M.D.[2][3] Er war für kurze Zeit als US-Army-Psychiater in Deutschland stationiert.[3] Seit 1963 war er Clinical Professor of Psychiatry an der Columbia-Universität,[1] ein akademischer Titel, „den medizinische Fakultäten in den USA Ärzten verleihen, die Studenten erlauben, bei ihrer Arbeit zu hospitieren.“ Im Gegensatz zum Titel „Professor für Klinische Medizin“ (Professor of Clinical Medicine) „weist der Titel, den Gardner besitzt, weder auf eine vollgültige Mitgliedschaft in der Fakultät noch auf Forschungsleistungen hin.“[4]

Einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte er durch die Einführung des Modells der Parental Alienation Syndrome (PAS, deutsch Elterliches Entfremdungssyndrom) im Jahr 1985.[5] Nach der Einführung des PAS distanzierten sich Gardner und die Columbia University voneinander. Danach arbeitete Gardner in einer privaten Praxis in New York, jedoch hauptsächlich und im wachsenden Umfang als Gutachter das PAS betreffend.[3][4]

Gardner war verheiratet und hatte drei Kinder. Seine Ehe mit Lee Gardner wurde geschieden. Am 25. Mai 2003 beging Gardner Suizid. Sein Sohn berichtete, dass Gardner zunehmend an Symptomen eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms gelitten hatte.[1]

Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gardner verfasste mehr als 40 Bücher und über 250 Artikel über Themen der Kinderpsychiatrie. Die Mehrzahl von Gardners Büchern und Artikeln erschien in seinem Selbstverlag Creative Therapeutics, in dem keine Werke anderer Autoren veröffentlicht wurden.[6]

Neben seiner Lehrtätigkeit war er auch als Gutachter tätig.

Trennungssituationen und PAS[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gardner schrieb extensiv über das Thema Scheidung. Zu einer Zeit, in der sich Paare in den Vereinigten Staaten häufiger scheiden ließen, veröffentlichte Gardner im Jahr 1970 das Buch Boys and Girls Book About Divorce. Darin gab er Kindern Ratschläge, wie sie mit den Stressoren und mit ihren Eltern umgehen sollen.[1]

Gardner prägte 1985 den Begriff Parental Alienation Syndrome (PAS), der auf eigenen Beobachtungen in seiner Arbeit als Kinderpsychiater beruht.[7] Es handele sich nach Gardner um einen Subtyp elterlicher Entfremdung, bei dem ein Elternteil das Kind manipuliert mit der Folge der Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil.[8] Das PAS äußere sich nach Gardner dadurch, dass

  1. das Kind den entfremdeten Elternteil unbegründet zurückweist und verunglimpft,
  2. absurde Gründe für seine Ablehnung des entfremdeten Elternteils anführt,
  3. den entfremdeten Elternteil als vollständig schlecht ansieht,
  4. reflexartig für den betreuenden Elternteil Partei ergreift,
  5. seine Feindseligkeit auf die gesamte Familie und das weitere Umfeld des entfremdeten Elternteils ausweitet,
  6. Redewendungen von dem betreuenden Elternteil übernimmt,
  7. keine Schuldgefühle hat und
  8. seine „eigene Meinung“ besonders betont.[8]

1987 verfasste Gardner das Buch The Parental Alienation Syndrome and the Differentiation Between Fabricated and Genuine Child Sex Abuse und veröffentlichte es im Selbstverlag.[1]

Innerfamiliäre Pädophilie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den 1980er Jahren interessierte Garder sich zunehmend für Fälle von sexuellem Kindermissbrauch, die er für ein Ergebnis einer nationalen Hysterie hielt.[1] Zu sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern vertrat er die Auffassung, dass „innerfamiliäre Pädophilie (das heißt, Inzest) weit verbreitet und ... wohl eine alte Tradition“ sei.[9] Das sexuell missbrauchte Kind werde allgemein als Opfer betrachtet, obwohl das Kind die sexuelle Handlung initiiert haben könnte. Ob die Erfahrung traumatisch ist, sei eine soziale Einstellung. Sexuell missbrauchten Kindern könne geholfen werden, wenn sie lernten, dass sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht allgemein als verwerflich betrachtet werden. Für die Therapie der Mütter empfahl er, sie solle ihre Wut auf den Ehemann entschärfen und sexuell wieder mehr ansprechbar für ihn werden. Dem pädophilen Vater könne in der Therapie geholfen werden, wenn er rationalisiere, dass Pädophilie eine weltweit verbreitete und akzeptierte Praxis sei, und es nichts gebe, wofür man sich schuldig fühlen müsse.[10]

1991 veröffentlichte er Sex-Abuse Hysteria: Salem Witch Trials Revisited im Selbstverlag.[1] 1992 verfasste er das Buch True and False Accusations of Child Sex Abuse.[11]

Begutachtungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In mehreren hundert Fällen trat er in den Vereinigten Staaten als Gutachter in Sorgerechtsfällen vor Gericht auf.[12] Gardner arbeitete zum Beispiel mit den Anwälten von Kelly Michaels, einer Kindererzieherin aus New Jersey, zusammen, die in einem in den Medien viel thematisierten Prozess wegen Kindesmisshandlung verurteilt worden war und fünf Jahre später freigesprochen wurde.[1] Eine andere viel beachtete Gerichtsverhandlung, an der sich Gardner beteiligt hatte, war ein Sorgerechtsstreit, bei dem sich die drei Söhne eines Paares weigerten, den Vater zu besuchen, weil dieser gewalttätig gewesen sei. Gardner sagte aus, dass die Kinder manipuliert worden seien und an PAS litten, der Richter verordnete daraufhin, dass die Jungen die Besuche beim Vater fortsetzen und sich respektvoll und gehorsam benehmen. Einer der Jungen wurde kurze Zeit später tot aufgefunden.[3][13]

Gardner wurde in den amerikanischen Medien bei Fällen mit großer Öffentlichkeit wie dem Sorgerechtsstreit zwischen Mia Farrow und Woody Allen vielfach zitiert. Er empfahl auch in krassen Fällen von Missbrauchsbeschuldigungen, dem beschuldigten Elternteil das Sorgerecht zu geben, auch wenn das Kind selbst Besuche dieses Elternteils ablehnte.[7] In einem Nachruf der britischen Tageszeitung The Independent wurde er als „American monster“ bezeichnet.[3]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gardners Annahmen über die Häufigkeit falscher Anschuldigungen sexuellen Kindermissbrauchs wurden von mehreren Autoren als falsch und hetzerisch kritisiert.[14][15] In seinem Buch The Parental Alienation Syndrome and the Differentiation between Fabricated and Genuine Sexual Abuse (1992) behauptete Gardner, dass in Sorgerechtsstreitigkeiten die meisten Kinder, die angeben, sexuell missbraucht worden zu sein, sich den sexuellen Missbrauch ausgedacht haben.[16] Andere Wissenschaftler argumentieren, dass diese Aussage empirisch unbestätigt sei[17][18] oder wissenschaftlichen Ergebnissen widerspreche.[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h Richard Gardner, 72, Dies; Cast Doubt on Abuse Claims. In: The New York Times, 9. Juni 2003.
  2. Complete home medical guide, hrsg.: Columbia University. College of Physicians and Surgeons 1985, ISBN 978-0-517-55842-3, Contributors, S. ix, (Google Books)
  3. a b c d e Andrew Gumbel: Dr Richard A. Gardner: Child psychiatrist who developed the theory of Parental Alienation Syndrome. In: The Independent, 31. Mai 2003.
  4. a b Carol S. Bruch: Parental Alienation Syndrome and Alienated Children - getting it wrong in child custody cases, in: Family Law Quarterly, Volume 35, Number 3, Fall 2001, S. 353, Fußnote 26, und in: Child & Family Law Quarterly (2002), S. 386, Fußnote 26. Auf deutsch: Parental Alienation Syndrome und Parental Alienation: Wie man sich in Sorgerechtsfällen irren kann. In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht. Bd. 49, Heft Nr. 19, 2002, S. 1307, Fußnote 26, pdf
  5. Harry Dettenborn: Parental alienation syndrome. In: M. A. Wirtz (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. 19. Auflage. Hogrefe Verlag, Bern 2020, ISBN 978-3-456-85914-9 (hogrefe.com [abgerufen am 7. August 2020]).
  6. KC Faller: The Parental Alienation Syndrome: What is it and What Data Support it?. In: Child Maltreatment. 3, Nr. 2, Mai 1998, S. 100–115. doi:10.1177/1077559598003002005.
  7. a b Myrna Oliver: Richard Gardner, 72; Had Theory on False Claims of Abuse Against Parents, Los Angeles Times, 12. Juni 2003
  8. a b Harry Dettenborn: Parental Alienation Syndrome. In: Markus A. Wirtz (Hrsg.): Dorsch: Lexikon der Psychologie. 19. überarb. Aufl. Hogrefe, Bern 2020, ISBN 978-3-456-85914-9, S. 1308. Online einsehbar im Portal Hogrefe.
  9. Gardner 1991, S. 119
  10. SJ Dallam: Dr. Richard Gardner: A review of his theories and opinions on atypical sexuality, pedophilia, and treatment issues. In: Treating Abuse Today, 8 Nr. 1, Denver 1998, 15–23
  11. Gardner's controversial stance on incest. In: Pittsburgh Post-Gazette, 2. Juni 1998.
  12. Mackenzie Carpenter, Ginny Kopas: Casualties of a Custody War: Maverick expert exerts wide influence on custody cases, Pittsburgh Post-Gazette, 2. Juni 1998
  13. M Carpenter, G Kopas: Casualties of a Custody War. In: Pittsburgh Post-Gazette, abgerufen am 13. Juni 2014.
  14. BW Boas, SB Forman: Consider the Source: A Commentary on Incest and Parental Contact. In: Journal of Child Sexual Abuse. 17, Nr. 1, 2008, S. 13–16. doi:10.1080/10538710701884292.
  15. JEB Myers: New era of scepticism regarding children's credibility. In: Psychology, Public Policy and Law (American Psychological Association), 1995.
  16. RA Gardner: The parental alienation syndrome and the differentiation between fabricated and genuine sexual abuse. Creative Therapeutics (Gardners Selbstverlag), Creskill/NJ 1987, S. 274: "This relates to my deep involvement in custody litigation in which the vast majority of children who profess sexual abuse are fabricators."
  17. PD Salinger: True or False Accusations?: Protecting Victims of Child Sexual Abuse During Custody Disputes. In: McGeroge Law Review. 32, Nr. 1, 2000, S. 693 ff.
  18. Carol Sanger: Family law stories. Foundation Press, New York 2008, ISBN 978-1-59941-020-3, S. 144.
  19. JEB Myers: Allegations of Child Sexual Abuse in Custody and Visitation Litigation: Recommendations for Improved Fact Finding and Child Protection. In: Journal of Family Law. 28, Nr. 104, 1990, S. 21: "There is no systematic evidence, however, that the number of allegations arising during custody litigation has reached flood stage. Nor is there convincing evidence that a substantial portion of the allegations are fabricated. In fact, the research that exists points the other way."
    vgl. auch: JEB Myers: Myers on Evidence in Child, Domestic, and Elder Abuse Cases. Aspen Publishers, New York 2005, ISBN 978-0735556683, S. 415: „Any Use of PAS for diagnostic purposes is a misuse of the syndrome that does not pass muster under Frye or Daubert.“