Sibyllinische Orakel

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Die Sibyllinischen Orakel (griechisch Χρησμοὶ Σιβυλλιακοί Chresmoi Sibylliakoi, lateinisch Oracula Sibyllina, deutsch auch Sibyllinische Weissagungen) sind eine im 6. Jahrhundert zusammengestellte Sammlung von vermeintlich prophetischen Schriften in griechischen Hexametern, die auf jüdische, christliche und heidnische Quellen von 150 v. Chr. bis 300 n. Chr. zurückgeht. Sie sind nicht identisch mit den römischen Sibyllinischen Büchern.

Inhalt und Ursprung der Sammlung

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Bücher I–II und XI–XIV

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Die Bücher I–II sowie XI–XIV haben eine jüdische Grundlage, aber sind stark christlich überarbeitet[1].

Buch III ist nach der Mehrheit der Forscher das älteste Stück der Sammlung, und rein jüdischen Ursprungs. Die Hauptstücke sind ins zweite Jahrhundert vor Christus zu datieren[2].

In der uns vorliegenden Gestalt ist das Buch in den achtziger Jahren des ersten Jahrhunderts aus der Feder eines jüdischen Verfassers entstanden[3]. In den Versen 116 und 125f. finden sich Hinweise auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.); die Verse 130–136 spielen auf den Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. an. Der Verfasser hat wahrscheinlich in den Versen 49–101 eine aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert stammende Passage heidnischen Ursprungs aufgenommen, in der die Weltgeschichte in vier Weltreiche mit insgesamt zehn Generationen eingeteilt wird[4].

Buch V bietet recht unterschiedliche und nur wenig miteinander verbundene Orakelsprüche. In seinen Hauptstücken ist es um 100 n. Chr. entstanden.[5] Es enthält eine Liste der römischen Kaiser von Cäsar bis Hadrian, die mit symbolischen Zahlen (→ Gematrie) oder Initialen bezeichnet werden.[6] Weiter finden sich darin Weissagungen gegen Völker oder Städte, vor allem gegen Ägypten und Rom[7] und es wird von einer messianischen Gestalt erzählt. Es endet mit einem Abschnitt über den Krieg zwischen einzelnen Sternen, der von astrologischen Vorstellungen geprägt ist.

Die Bücher VI–VIII sind rein christlichen Ursprungs[8]; die Bücher IX und X wiederholen nur Stoff aus den anderen Büchern und fehlen daher in den Textausgaben[9].

Wertung als historische Quelle

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Die Bücher des Sibyllinischen Orakels können trotz ihrer Überarbeitungen als Quelle kultureller Information, zur Deutung des Religionsverständnisses und zur Interpretation von politischen Ereignissen ihrer Entstehungszeit in den orientalischen Provinzen des Römischen Reiches herangezogen werden.[10]

Spätantike und mittelalterliche Fassungen

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Christliche Autoren seit der Spätantike betrachteten die Sibyllen als Prophetinnen. Im Mittelalter erfuhren die Orakelschriften in zahlreichen Fassungen große Verbreitung. Die bedeutenden Traditionslinien des Sibyllinischen Orakels waren:

  • Die Tiburtinische Sibylle (lat. Sibylla Tiburtina) geht auf ein griechisches Vorbild zurück und entstand im südlichen Italien des 11. Jahrhunderts. Mehr als 130 Handschriften in lateinischer Sprache sind allein von dieser Sammlung überliefert; 30 davon datieren von vor 1200. Daneben existierten zahlreiche Übersetzungen ins Griechische, Äthiopische und Arabische. Damit trägt diese Sibylle maßgeblich zur im abendländischen Mittelalter von weithin gehegten eschatologischen Erwartung des Friedenskaisers bei, dessen Kommen in ihr vorausgesagt wird.
  • Die Eritreische Sibylle (lat. Sibylla Eritrea), ebenfalls nach einem griechischen Vorbild und war bereits dem Kirchenvater Augustinus von Hippo bekannt, der sie in De civitate Dei 18.23 erwähnt. Seit dem 12. Jahrhundert ist diese Sammlung auch weit verbreitet. Eine von Franziskanern überarbeitete Langfassung (um 1240) wird als Mittel der politischen Propaganda gegen Kaiser Friedrich II. gebraucht.
  • Weniger als die Vorigen wurden die Cumanische Sibylle (lat. Sibylla Cumana) und
  • die Samische Sibylle oder Delphische Sibylle (lat. Sibylla Samia/Delphica) rezipiert. Zur letztgenannten Orakelsammlung verfasste Joachim von Fiore einen Kommentar.
  • Charles Alexandre: Χρησμοὶ Σιβυλλιακοί. Ed. altera ex priore ampliore contracta, integra tamen et passim aucta, multisque locis retractata. Didot, Paris 1869. Auf Archive.org
  • Jörg-Dieter Gauger: Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von A. Kurfeß hg. und neu übersetzt. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 1998, ISBN 3-7608-1701-7.
  • Johannes Geffcken: Die Oracula Sibyllina, GCS 8, Leipzig 1902.
  • Helmut Merkel: Sibyllinen. In: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Sibyllinen V/8. Gütersloh 1998, ISBN 3-579-03958-X.
  • Friedrich Blass: Die Sibyllinen. In: Emil Kautzsch (Hrsg.): Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Mohr (Siebeck) Tübingen 1900, Bd. 2, S. 177–217.
  1. Hahn, Apokalyptik, 91.
  2. Merkel, Sibyllinen 1059–1064.
  3. „Die Annahme, Buch IV sei […] christlicher Herkunft, ist heute endgültig aufgegeben“ (Rosso Ubigli 241).
  4. Merkel, Sibyllinen 1064f.
  5. Merkel, Sibyllinen 1066f. Rosso Ubigli (243) nennt den Zeitraum von 80 bis 130 n. Chr.
  6. Buch V, 12–51.
  7. Wie in der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes finden wir auch hier die Bezeichnung Roms mit dem Symbolnamen Babylon. Vgl. V, 159 und (Offb 18,2 EU) u.ö.
  8. Hahn, Apokalyptik, 91.
  9. Merkel, Sibyllinen, 1046.
  10. Siehe zum Beispiel Udo Hartmann: Orientalisches Selbstbewusstsein im 13. Sibyllinischen Orakel. In: Michael Blömer, Margherita Facella, Engelbert Winter (Hrsg.): Lokale Identität im Römischen Nahen Osten (= Oriens et Occidens. Band 18). Franz Steiner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-515-09377-4, S. 75–98.