Unbeabsichtigte Folgen

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In den Sozialwissenschaften bezeichnen „unbeabsichtigte Folgen“ (englisch Unintended Consequences bzw. englisch Unintended Effects) Resultate von Handlungen, die nicht beabsichtigt waren. Diese Folgen können absehbar oder nicht absehbar sein, sind aber stets ein logisches oder wahrscheinliches Resultat der Handlung. Beispielsweise spekulierten einige Historiker, dass es ohne den für Deutschland erniedrigenden Friedensvertrag von Versailles nicht zum Zweiten Weltkrieg gekommen wäre.[1] In dieser Sichtweise wäre der Krieg eine unbeabsichtigte Folge des Vertrags. Das Konzept existiert seit langem, wurde aber erst im 20. Jahrhundert durch den Soziologen Robert K. Merton popularisiert.[2]

Unbeabsichtigte Folgen lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:

  • ein positiver Effekt, auch Serendipität oder Unverhoffter Gewinn.
  • ein perverser Effekt, der das Gegenteil des Beabsichtigten darstellen kann.
  • ein negativer Effekt, wo zwar häufig das Beabsichtigte eintritt, allerdings gleichzeitig negative Folgen auftreten.

Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das sogenannte ‚Gesetz der unbeabsichtigten Folgen‘ ist kein Naturgesetz im Sinne beispielsweise des ohmschen Gesetzes, sondern ein humorvoller Ausdruck, nach dem eine zweckdienliche Handlung unbeabsichtigte, unerwartete, und gewöhnlich unerwünschte Folgen hat.[3] Mit anderen Worten hat jede Ursache mehrere Folgen, von denen unweigerlich mindestens eine einen unvorhersehbaren Nebeneffekt darstellt. Dieser unbeabsichtigte Nebeneffekt kann dabei signifikanter sein als der beabsichtigte Effekt. Ähnlich Murphys Gesetz repräsentiert das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen eine Warnung vor dem Glauben, Menschen könnten eine vollständige Kontrolle ausüben.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Konzept der unbeabsichtigten Konsequenzen hat ihren frühsten bekannten Ursprung bei Adam Smith, der Schottischen Aufklärung, und dem Konsequentialismus. Popularisiert wurde es jedoch erst im 20. Jahrhundert von Robert K. Merton.[4][5][6][7] In seinem 1936 erschienenen Artikel The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action versuchte Merton, das Problem der unbeabsichtigten Folgen von zweckbestimmten Handlungen systematisch zu analysieren. Es betonte, dass diese Handlungen sich auf solche mit Motivationen und verschiedenen Alternativen beschränkten.[7]

Ursachen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mögliche Ursachen für unbeabsichtigte Folgen sind Komplexität, perverse Anreize, menschliche Dummheit, Selbstbetrug, Ignoranz der menschlichen Natur und emotionale oder Kognitiven Verzerrungen. Merton nennt 5 mögliche Gründe:[8]

  1. Ignoranz: Es ist unmöglich, alle Möglichkeiten vorherzusehen.
  2. Fehler: Anwendung von Methoden, die in der Vergangenheit funktioniert haben, der aktuellen Situation aber nicht gerecht sind.
  3. Kurzfristige Interessen, die langfristige dominieren können.
  4. Grundwerte können einzelne Methoden erzwingen oder verbieten, die langfristig gesehen unvorteilhaft sind.
  5. Selbstzerstörerische Prophezeiung: Die Angst vor gewissen Folgen führt dazu, dass Menschen Lösungen finden, bevor das Problem auftritt, daher ist das Nichteintreten des Problems unerwartet.

Beispiele[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unbeabsichtigte positive Effekte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Das Sinken von Schiffen in Kriegszeiten führte zur Entstehung von Korallenriffen, die einen ästhetischen, wissenschaftlichen und touristischen Wert haben.[9][10][11][12][13]

Unbeabsichtigte negative Effekte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Streisand-Effekt: Der Versuch, im Internet bestimmte Informationen zu entfernen, kann dazu führen, dass diese noch stärker verbreitet werden.
  • Der Import exotischer Tier- und Pflanzenarten hat regelmäßig drastische Auswirkungen auf lokale Ökosysteme, zum Beispiel die Aga-Kröte, die in Australien zur biologischen Schädlingskontrolle eingesetzt wurde und sich dort selbst zur Plage entwickelte.
  • Allgemeiner der Kobra-Effekt; er beschreibt Maßnahmen, die getroffen werden, um ein bestimmtes Problem zu lösen, die aber letztlich genau dieses Problem verschärfen.
  • 1990 machte der australische Bundesstaat Victoria das Tragen von Fahrradhelmen zur Pflicht für alle Fahrradfahrer. Zwar reduzierte diese Maßnahme die Zahl der Kopfverletzungen von Fahrradfahrern, dies sei jedoch vor allem auf die aufgrund der Unpopularität von Helmen zurückgegangene Nutzung des Fahrrads unter Jugendlichen zurückzuführen.[16] Eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass Helmpflicht gesundheitlich kontraproduktiv ist und Nettogesundheitskosten von 0,4 bis 0,5 Milliarden US-Dollar in Australien, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten verursacht.[17]
  • Die Abstinenzkampage des Geistlichen Theobald Mathews im 19. Jahrhundert in Irland, im Zuge derer Tausende Menschen schworen, nie wieder Alkohol zu trinken, führte zum erhöhten Konsum des schädlicheren Ethers.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action by Robert K. Merton, American Sociological Review, Band 1, Nummer 6, Dez. 1936, S. 894–904.
  • Edward Tenner, Why Things Bite Back: Technology and the Revenge of Unintended Consequences, Vantage Books, 1997.
  • Tomislav V. Kovandzic, John Sloan III, and Lynne M. Vieraitis. Unintended Consequences of Politically Popular Sentencing Policy: The Homicide-Promoting Effects of 'Three Strikes' in U.S. Cities (1980-1999). Criminology & Public Policy, Band 1, Nummer 3, Juli 2002.
  • Vulcan, A.P., Cameron, M.H. & Heiman, L., Evaluation of mandatory bicycle helmet use in Victoria, Australia. In: 36th Annual Conference Proceedings, Association for the Advancement of Automotive Medicine, 5.–7. Okt., 1992.
  • Vulcan, A.P., Cameron, M.H. & Watson, W.L., Mandatory Bicycle Helmet Use: Experience in Victoria, Australia. In: World Journal of Surgery, 1992, 16: S. 389–397.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Walter Stahl: The politics of postwar Germany. Frederick A. Praeger, Inc., New York, 1963, S. 149–150.
  2. Robert K. Merton, Versatile Sociologist and Father of the Focus Group, Dies at 92, Michael T. Kaufman, New York Times.
  3. Library of Economics and Liberty:Unintended Consequences, Rob Norton
  4. Renowned Columbia Sociologist and National Medal of Science Winner Robert K. Merton Dies at 92 Columbia News
  5. Robert K. Merton Remembered Footnotes, American Sociological Association
  6. Robert K. Merton, Versatile Sociologist and Father of the Focus Group, Dies at 92, Michael T. Kaufman, New York Times.
  7. a b Robert K. Merton: The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action. In: American Sociological Review. 1. Jahrgang, Nr. 6, S. 895 (atfreeweb.com [abgerufen am 30. Mai 2008]).
  8. Merton, Robert K. On Social Structure and Science The University of Chicago Press, 1996.
  9. http://www.dnr.maryland.gov/dnrnews/pressrelease2008/020708a.html
  10. http://www.msnbc.msn.com/id/18853363/
  11. Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 9. Mai 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.thenational.ae
  12. Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 27. Dezember 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/cbs4.com
  13. http://www.cdnn.info/news/industry/i061227.html
  14. John J. Donohue, Steven Levitt: The Impact of Legalized Abortion on Crime. In: Quarterly Journal of Economics. 116. Jahrgang, Nr. 2. MIT, Mai 2001, S. 379–420, doi:10.1162/00335530151144050 (mitpress.mit.edu (Memento des Originals vom 11. Mai 2011 im Internet Archive) [abgerufen am 30. Dezember 2009]).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/mitpress.mit.edu
  15. BBC 15 February 2001, Aspirin heart warning
  16. Cameron, M, Cameron, M., Vulcan, A., Finch, C, and Newstead, S: Mandatory bicycle helmet use following a decade of helmet promotion in Victoria, Australia—an evaluation. In: Accident Analysis and Prevention. 26. Jahrgang, Nr. 3, Juni 1994, S. 325–327, doi:10.1016/0001-4575(94)90006-X.
  17. Evaluating the Health Benefit of Mandatory Bicycle Helmet Laws, Piet De Jong, Macquarie University - Actuarial Studies, 26 October 2009
  18. MSNBC article on Bin Laden and blowback (Memento des Originals vom 2. Dezember 1998 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.msnbc.com
    Atlantic magazine article: "Blowback"
    Observer article: Why 'blowback' is the hidden danger of war